“Truth has rarely been a friend of nuclear power”.
Mit diesen Worten beginnt das Vorwort zum World Nuclear Industry Status Report 2023, der wohl wichtigsten kritischen Bestandsaufnahme zur Kernenergie-Industrie, die in der Welt veröffentlicht wird. Die Stärke der Aussage und der Meinung, die sie ausdrückt, verwundert niemanden, der mit dem Werdegang der Autorin, Stephanie Cooke, vertraut ist, gehört Sie doch zu den meinungsstärksten Kritikerinnen der friedlichen Kernergienutzung. So ist auch der Bericht an sich, an dem neben ihr viele andere mitgewirkt haben, außerordentlich pessimistisch. Das war er schon immer, aber nachdem die Kernenergie allerorten in den letzten zwei Jahren wieder stärker diskutiert wurde, ist es mindestens bemerkenswert, für viele ganz bestimmt verwunderlich. Man muss auch nicht mit allen Schlussfolgerungen übereinstimmen, aber man kann ihm zugestehen, dass die langfristigen Trends bisher korrekt identifiziert wurden.
Mit diesem Statement leite ich ein, was möglicherweise eine kleine Serie wird, möglicherweise ein einzelner Artikel bleibt – genaueres weiss ich jetzt noch nicht; ich wurde letzte Woche zum zweiten Mal Papa und da die Schwangerschaft gegen Ende nicht ganz komplikationsfrei war (Mama und Kind geht’s nach der Geburt allerdings gut), bin ich mit meinen persönlichen Zeitplänen massiv in Verzug und kann nicht sagen, wie viel Zeit ich wofür in den nächsten Monaten werde aufwenden können.
Wer dieses Blog kennt weiss, dass die friedliche Nutzung der Kernenergie eines meiner großen Interessenfelder ist. Ich habe das ein oder andere Fachbuch studiert, das ein oder andere Vorlesungsskript durchgearbeitet, diverse populärwissenschaftliche Literatur gelesen und versuche am Puls der Zeit zu bleiben, indem ich regelmäßig auf den World Nuclear News, dem Power Reactor Information System PRIS oder beim WNISR vorbeischaue. Ich bin aber kein Experte. Ich bin kein Kerntechniker und ich habe nicht in der Kernenergie-Industrie im Speziellen gearbeitet. Ich bin und bleibe Laie. Allerdings kenne ich die Industrie an sich und ihre Abläufe und Dynamiken ziemlich gut und deswegen stelle ich mir hin und wieder- hoffentlich – qualifizierte Fragen. Welchen Weg die friedliche Nutzung der Kernenergie weltweit in den nächsten Jahrzehnten nehmen wird, steht dabei ganz oben.
Eingedenk des 70. Jahrestages der Inbetriebnahme des ersten dediziert friedlichen Zwecken dienenden Kernkraftwerks im russischen Obninsk vor ein paar Tagen lohnt es sich, diese Frage mal wieder ganz bewusst zu stellen und zur Diskussion darüber einzuladen. Vorweg ein paar zusammengewürfelte Gedanken:
Als ich 2007 anfing zu studieren waren weltweit 447 Leistungsreaktoren in Betrieb. Das gros war in den 1970er und 80er Jahren gebaut worden und gehörte schon zur 1.000-MW-Klasse, allerdings gab es auch noch einige viel kleinere Anlagen aus den ersten Jahren der Kernenergienutzung.
am 01. Juli 2024 sind 416 Leistungsreaktoren in Betrieb. Das gros dieser Anlagen hat Blockleistungen > 800 MW und was aktuell neu gebaut oder geplant wird hat sich im Bereich 1.000 MW eingependelt, mit einzelnen Einheiten größerer Leistung. Möglicherweise werden die Kraftwerke der nächsten Generation Blockleistungen im Bereich 1.500 MW haben, aber zurzeit ist das noch nicht sicher. Von den kleinen Anlagen der ersten Generation ist praktisch keine mehr am Netz und Small Modular Reactors spielen keine Rolle (Außer dem russischen Akademik Lomonossow gibt es keine Anlage, für die die Beschreibung zutreffend wäre).
Interessantes Detail: In den letzten zehn Jahren wurde eine bedeutende Zahl von Leistungsreaktoren der zweiten Generation vom Netz genommen. Zählt man folgendes nicht mit:
- den deutschen und belgischen Kernenergieausstieg
- die japanische Reaktorflotte (wegen der Nachwirkungen des Unfalls von Fukushima)
- die ukrainischen Kraftwerke, die wegen des Krieges nicht laufen
- alle Kraftwerke < 500 MW
dann weist, wenn ich mich nicht verzählt habe, das PRIS für die Jahre 2013 bis Mitte 2024 folgendes aus:
- 9 Reaktoren in zwischen 500 und 800 MW
- 17 Reaktoren > 800 MW
wurden permanent abgeschaltet.
- 67 Reaktoren > 500 MW
wurden neu mit dem Netz verbunden.
Die neuen Reaktoren haben im Mittel Blockleistungen von etwa 1.100 MW. Auf den ersten Blick ist das, unter Vernachlässigung von Sondereffekten, ein großer Zubau. Allerdings tut sich mir da eine Frage auf, der zwei Beobachtungen zugrunde liegen:
1. Ein abgeschriebenes Kernkraftwerk sollte für den Betreiber eine Gelddruckmaschine sein. In allen Kalkulationen und frei zugänglichen Dokumenten wird betont, dass der bei weitem größte Teil der Stromgestehungskosten auf den Bau der Anlage entfällt. Der nächstgrößere ist der Rückbau, Betriebskosten und Brennstoff machen nur einen kleinen Teil aus. Abgeschriebene Kraftwerke sind per Definition bezahlt.
2. Kaum eine Aufsichtsbehörde auf der Welt verweigert Laufzeitverlängerungen. Es gibt mittlerweile viele Beispiele für Anlagen, die über 40 Jahre hätten weiterbetrieben werden dürfen und nur ein paar wenige, z.B. Thiange-1 und Doel-1 und -2 in Belgien (aber die Klammern wir aus, weil Belgien den Kernenergieausstieg beschlossen hat und oben deswegen nicht mit betrachtet wurde), bei denen die Behörde den Weiterbetrieb verweigert oder bei denen es, wie bei Diablo-Canyon-1 und -2 in den USA zu größeren Diskussionen zwischen Betreiber und Behörde kam (bevor die Verlängerung bewilligt wurde).
Von den großen Anlagen, die in den letzten zehn Jahren vom Netz genommen wurden, hatten einige noch nicht die 40 Jahre erreicht. Warum werden Anlagen in kernergiefreundlichen Ländern vom Netz genommen, die zumindest prinzipiell weiterbetrieben werden könnten?
Anderes Detail: Das PRIS liefert für die letzten 20 Jahre für die Neubauten folgendes Bild: Bis 2010 steigt deren Zahl pro Jahr an. Dann, nach der Katastrophe von Fukushima, sinkt sie rapide ab, steigt bis 20213 wieder an; es folgt ein Auf und Ab bis 2020 und seitdem ist sie wieder gesunken. Was könnte das bedeuten?
Seit rund zehn Jahren gibt es das Konzept der Small Modular Reactors, aber wirklich viel passiert ist seither nicht und ich mache keinen Hehl daraus, dass ich nicht so recht an ihren Siegeszug glauben kann. das Ponton-Kraftwerk Akademik Lomonossow ist zurzeit das einzige seiner Art auf der Welt, das ich so bezeichnen würde und auch das wurde nicht als SMR geplant, sondern wird im Nachhinein so genannt, weil es sehr nahe am ursprünglichen Konzept ist. Manche Anlagen, wie der chinesische HTR-PM, werden oft dazugezählt, aber in meinen Augen ist die Bezeichnung von Kraftwerken der 300-MW-Klasse als SMR vor allem ein Werbeversprechen. Sie sind nicht modularer oder weniger modular als große Leistungsreaktoren, nur kleiner. Technisch modern, aber konzeptionell nicht unähnlich den Reaktoren der späten ersten und frühen zweiten Generation, die Ende der 1950er bzw. 1960er Jahre gebaut wurden. Vom eigentlichen Ziel der fabrikmäßigen Produktion einer Standard-Anlage im Sinne einer Package Unit sind sie weit entfernt. Wie wird es an dieser Front weitergehen?
Eng mit der SMR-Entwicklung verknüpft ist das wieder aufblühende Interesse an Konzepten wie Thorium-Nutzung, Flüssigmetallkühlung, Salzschmelze-Reaktoren und gesteigerten Temperaturen. das Advanced Reactor Information System ARIS der IAEA weist neben den Druck- und Siedewasser-Reaktoren neun fortschrittliche Konzepte aus. Allesamt interessant, aber allesamt auch schon mal dagewesen und mit ihren ganz eigenen Herausforderungen behaftet. Zurzeit dominiert aus guten Gründen bei Neubauten mit weitem Abstand der Druckwasser-Reaktor. Wird sich daran in der nahen Zukunft (bis ca. 2035) etwas ändern?
Im Zuge der immer sichtbarer werdenden Konsequenzen des Klimawandels und vor allem im Kielwasser des russisch-ukrainischen Krieges und der Sorge um die Energieversorgung ist das Interesse an Kernkraftwerken in vielen Ländern deutlich gestiegen. Das Vereinigte Königreich und Frankreich haben unter den Europäischen Nationen die größten Ankündigungen gemacht und sie stehen damit beileibe nicht allein. An Ankündigungen ist die Geschichte der Kernenergie allerdings deutlich reicher als an realisierten Anlagen. Was wird, eingedenk der realen Kosten- und Terminüberschreitungen von Flamanville, Olkiluoto und Hinkley Point C, in zehn Jahren wirklich neu auf den Weg gebracht worden sein?
Das sind fünf Fragen innerhalb dieses riesigen Themenkomplexes, die mich zurzeit besonders bewegen. Ich bin gespannt, welchen Input wir dazu hier werden lesen können.
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