Ich habe vor kurzem über einen Vortrag von Henry Petroski geschrieben. Der Mann hat auch eine Reihe von Büchern geschrieben, von denen zumindest eins auf archive.org frei verfügbar ist. “The Evolution of Useful Things” ist ein durchaus interessantes Buch.
Es geht um Alltagsgegenstände und wie sie entstehen. Darunter sind Getränkedosen, Büroklammern und Reißverschlüsse. Aber besonders angetan haben es mir die Kapitel über das Besteck und die europäische Esskultur. Im Zentrum steht dabei natürlich jene Kuriosität der europäischen Esskultur, die wir längst nicht mehr wahrnehmen. Die Gabel.
Die Gabel entstand dabei aus dem, was wir heute als Fleischgabel bezeichnen würden und genau dazu wurde sie auch benutzt. Mit zwei langen Zinken kann man Fleisch gut festhalten und schneiden, ohne es anfassen zu müssen. Überhaupt entwickelte sich dabei die Sitte, dass man Essen möglichst gar nicht mit den Fingern anfässt, insbesondere nicht, wenn man es mit anderen teilt. Und sie verbreitete über ganz Europa.
Damit das überhaupt passieren konnte, musste sich die Gabel dringend weiter entwickeln. Denn mit nur zwei langen Zinken kann man die meisten Speisen kaum in den Mund befördern. Daraus entwickelte sich bis etwa 1800 eine vierzinkige Gabel, die wir heute als ganz normal ansehen würde. Gleichzeitig veränderte sich aber auch das Messer. Die Messer verloren vor allem ihre Spitze. Das war in einer Zeit, in der jeder sein eigenes Messer mit sich trug ein ernsthafter Beitrag zur öffentlichen Sicherheit.
Man sollte aber nicht glauben, dass die Entwicklung des Essbestecks 1800 abgeschlossen war und sich seit dem nichts mehr geändert hat. Da hat man die Rechnung ohne die High Society gemacht. Denn alles was es wert ist zu tun, ist es wert, es zu übertreiben. Genau das tat man dann auch.
Wenn man aus einer Gabel mit zwei Zinken eine so viel bessere Gabel mit vier Zinken machen kann, dann muss da doch noch mehr gehen! Dachte man sich zumindest und der Bedarf war offensichtlich. Schonmal versucht eine saure Gurke mit einer normalen Gabel aus einem Topf zu holen? Schwierig. Dafür kann man eine eigene Gabel erfinden! Mit Oliven sieht es nicht anders aus. Auch dafür könnte man eine eigene Gabel machen – wobei man sich beim Ergebnis nicht einig war, ob es nun eher eine Gabel oder doch ein Löffel ist. Es ist ein Löffel mit einem Loch, durch das der Saft der Olive abfliesen kann, aber die Olive nicht durchfallen lässt. Gleichzeitig sind am vorderen Teil des Löffels zwei Stummel um die Oliven besser in die perfekte Lage zu bringen um sie in den Löffelteil zu befördern. Daher die Verwirrung. Zum Transport von Tomatenstückchen gab es natürlich auch ein spezielles, reich verziertes Utensil. Man sollte nur nicht den Faux-Pas begehen, damit Gurkenstücke servieren zu wollen!
Die Gabel entwickelte sich immer mehr zu Allzweckwaffe am Esstisch, mit dem Ziel das Messer ganz abzulösen. Dafür hatten Gabeln breitere Zinken, die als Schneidewerkzeug dienen sollten. Die Idee verfolgt uns bis heute – wenn auch nicht in Sterling Silber, sondern in weißem Wegwerfplastikgabeln mit einem gezahnten Zinken an der linken Seite (die bei mir noch nie einen Nutzen gefunden haben, bei dem selbiger Zinken nicht abgebrochen wäre).
So entstand auch das Fischmesser. Normale Messer wurden aus Eisen gefertigt, weil Silber keine scharfe Schneide halten kann. Beim Versuch mit so einem Messer einen Fisch zu essen hat man aber ein Problem. Denn Edelstahl gab es noch nicht. Die Säure die meistens mit Fisch einher geht, korrodiert das Eisen des Messers und das führt zu einem unangenehmen, metallischen Geschmack. Gleichzeitig braucht Fisch praktisch nicht geschnitten zu werden. Er zerfällt fast von allein. Und so kam man auf die Idee, den Fisch stattdessen mit zwei Gabeln zu essen, die beide aus Silber sind. Das war besser, aber keineswegs perfekt. Und so entwickelte sich dann langsam ein “Messer” ohne Schneide oder Zähne, dessen “Klinge” aus einem massiven Stück Silber bestand und nur für Fisch geeignet war. Eine passende Gabel nur für Fisch gab es selbstverständlich auch.
Es wird niemanden verwundern, dass man auf diese Weise irgendwann auf eine imposante Anzahl unterschiedlichster Essutensilien kommt. Mit Messer, Gabel, Suppenlöffel und Teelöffel wäre so manch viktorianischer Gentleman in feiner Gesellschaft dem Hungertod kaum entronnen. Die Kataloge der Besteckhersteller enthielten am Anfang des 20. Jahrhunderts teilweise über 130 verschiedene Teile für jedes eigene Design!
Die Notwendigkeit für die Formen kann durchaus bezweifelt werden. Nicht nur deshalb, weil fast alle davon verschwunden sind – sondern auch, weil es selbst Experten oft unmöglich ist die subtil unterschiedlichen Gabelformen dem angeblichen Zweck zuzuordnen.
Diese Geschichten sind aber nicht einfach nur Unterhaltsam, sie zeigen auch, wie die Dinge in unserem Alltag enstehen. Sie entstehen nicht unbedingt aus einer absoluten Notwendigkeit heraus. Es ist vielmehr der Wunsch etwas ganz bestimmtes mit einem ganz bestimmten Werkzeug tun zu können. Die Ergebnisse reichen dabei von Bahnbrechend bis lächerlich. Vor allem wenn es dabei tatsächlich um ein Werkzeug geht, ist das Ergebnis oft durchaus nützlich. Wer jeden Tag damit beschäftigt ist, Bleche auszubeulen, der tut gut daran, einen Hammer zu benutzen, der genau dafür gemacht ist. Wer ein einziges Mal ein Blech ausbeulen muss, käme wohl billiger davon, wenn er gleich ein neues Blech kauft.
Die Nützlichkeit kommt daher, dass sich das Werkzeug tatsächlich an seinem Zweck orientiert. Aber Essbesteck ist kein Werkzeug. Es geht nicht wirklich um die Fähigkeit eine Olive, ein Tomatenstück oder eine Auster möglichst fehlerlos oder schnell zu essen. Dieser Grad der Spezialisierung ist überhaupt nicht notwendig, denn kaum jemand wird sich von so vielen Austern ernähren, dass sich ein eigenes Werkzeug dafür lohnt. Freilich war das in der Geschichte dennoch der Fall. Als wenige Menschen auf große Austernbänke trafen. Aber hier geht es um eine reine Mode. Es geht nicht um das perfekte Werkzeug zu haben um eine Auster zu essen. Es geht darum zu zeigen, dass man das perfekte Werkzeug hat um eine Auster zu essen. Die tatsächliche Nützlichkeit dieses Werkzeugs ist dabei egal. Das oberste Anliegen ist es, dabei gesehen zu werden das gesellschaftlich “richtige” zu tun.
Natürlich kann auch eine solche Entwicklung zu nützlichen Werkzeugen führen, aber in erster Linie wird es zu einer langen Reihe unnützer Entwicklungen führen. Man braucht sich auch nur diverse Auswüchse der Unterhaltungselektronik in den 90er Jahren anzuschauen, um aktuelle Beispiele zu finden.
Wer nach Entwicklungen sucht, die sich demnächst wegen ihrer Funktion auf breiter Basis durchsetzen, der sollte eher anderswo suchen. Wenn der Zweck nur noch darin besteht, der Gesellschaft zu demonstrieren, dass man etwas tut, dann kann man davon keine nützlichen Entwicklungen erwarten. Genauso wenig, wie man von einem Lottoschein einen Gewinn erwarten kann. Das heißt nicht, dass es völlig ausgeschlossen wäre.
Aber wenn eine Aluminiumhütte nach Wegen sucht, den Stromverbrauch zu reduzieren, dann kann man davon ausgehen, dass die Maßnahmen funktionieren werden. Man kann auch davon ausgehen, dass jede Maßnahme ernsthaft geprüft wird, wenn in einem Betrieb der Strom mehr als die Hälfte der Kosten ausmacht und jedes Prozent der Profitrate auf die Sprünge hilft. Wenn das gleiche ein Umweltschutzverband tut, dann kann man in aller Regel (nicht immer!) davon ausgehen, dass irgendwo ein unerwähntes Problem steckt, dass die “Lösung” zu einem absurden Theater verkommen lässt.
Der Unterschied liegt in der Motivation. Die Motivation des Industriellen ist die Einsparung von Strom, weil sie zu höheren Profiten führt. Wenn es nicht funktioniert, trägt er auf lange Sicht die Konsequenzen. Die Motivation des Verbandes ist dagegen das öffentliche Schauspiel, weil es zu Spendengeldern oder Wählerstimmen führt, wie der Fall auch sein mag. Wenn es nicht funktioniert sind negative Konsequenzen praktisch ausgeschlossen, denn man hat das gesellschaftlich vorgefertigte Muster befolgt, das “richtige” getan und somit keinerlei Kritik zu befürchten.
Die Konsequenzen sind dann Technologien und ganze Gesetzeswerke, die sehr an die Besteckkästen der Viktorianer erinnern.
P.S.: Es wird jedem aufgefallen sein, dass ich nicht mehr so viel blogge wie bisher. Der Grund sollte genauso klar sein, ich schreibe jetzt auch anderswo schon um meinen Lebensunterhalt zu sichern. Ich versuche trotzdem täglich zu bloggen, aber es kann nicht immer funktionieren. Wie sich herausstellt, erfordert es eine andere Art von Denkarbeit einen Artikel für jemand anderen zu schreiben, als einen Artikel für den eigenen Blog nach eigenen Vorstellungen zu schreiben – und die hat zur Zeit einfach Vorrang.
Aber auch wenn ich weniger blogge, bedanke ich mich natürlich trotzdem bei euch allen für die Unterstützung jeder Art in den letzten Monaten. Ohne die wäre es dazu nie gekommen! Danke!
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