Der Linguist Prof. Dr. Manfred Bierwisch war von 1957 bis 1991 Mitarbeiter der Akademie der Wissenschaften der DDR, von 1992 bis 1998 war er Leiter der Max-Planck-Arbeitsgruppe ‘Strukturelle Grammatik’ und Professor für Linguistik an der HU Berlin. In diesem Gastbeitrag skizziert Manfred Bierwisch, unter welchen Bedingungen die Sprachwissenschaften in der DDR agierten.
Diese ziemlich generellen Bemerkungen können durch den Blick auf ein einzelnes Fachgebiet und seine Geschichte in der DDR etwas konkretisiert werden. Solche Feststellungen sind natürlicherweise durch persönliche Erfahrungen geprägt und überdies für verschiedene Fachgebiete und Institutionen sehr unterschiedlich, jedenfalls nicht generalisierbar. Die hier für die Sprachwissenschaft zu machenden Anmerkungen könnten dennoch charakteristisch sein.
Zunächst ist zur Kenntnis zu nehmen, dass 1945 in der ersten Phase nach dem Ende des Krieges der Osten vielen als das bessere Deutschland galt. Die Rückkehrer aus der Emigration von Brecht und Bloch bis Anna Seghers und Hans Mayer haben die DDR – ungeachtet des noch völlig ungebrochenen Stalinismus – nicht nur als echte Alternative zur Bundesrepublik, sondern auch als Möglichkeit einer sozialistischen Gesellschaft verstanden. Das hat viele Entscheidungen geprägt und Realitäten geschaffen.
Für eine bestimmte Phase war die Linguistik in der DDR womöglich näher an der internationalen Entwicklung als die in der Bundesrepublik.
Der Bruch mit erstarrten oder kompromittierten Teilen der Tradition im Osten des Landes hat in manchen Bereichen neue Möglichkeiten eröffnet. In der Sprachwissenschaft sind, insbesondere durch Initiativen von Wolfgang Steinitz, Entwicklungen in Gang gekommen, die in der Bundesrepublik erst verzögert zum Zuge kamen. Für eine nicht sehr lange und keineswegs stabile Phase war die Linguistik in der DDR womöglich näher an der internationalen Entwicklung als die in der Bundesrepublik. Jedenfalls haben einige Anstöße der 50er Jahre Spuren erzeugt, die auch nach dem Ende der DDR noch wahrnehmbar sind. Solche Feststellungen sind mit gebührender Zurückhaltung zu treffen, sie sind sehr fachspezifisch und allenfalls in jeweiligen Einzelfällen auf andere Bereiche übertragbar.
Wie viel wissenschaftliche Autonomie war in der DDR möglich?
Und sie müssen sogleich ergänzt werden durch den Hinweis auf die Reglementierung, der alle die Öffentlichkeit berührenden Vorgänge unterlagen. Die von Beginn an und mit heftigen Schwankungen bis zum Ende der DDR ganz grundsätzlich wirksame Kontrolle der SED über alle Bereiche der Gesellschaft – gemäß der Doktrin von der „führenden Rolle der Partei” – hat die wissenschaftliche Eigenständigkeit immer wieder behindert und oft massiv gestört, vielfach durch direkt gesteuerte Eingriffe und bösartige Kampagnen, die auch in persönliche Verhältnisse eingriffen, etwa durch Postkontrolle, Reisesperren oder Publikationsrestriktionen.
Dennoch hat das, was in den letzten Jahren der DDR als Aktivität von Dissidenten ins öffentliche Bewusstsein gelangte, innerhalb des Wissenschaftsbetriebes immer wieder und von Beginn an stattgefunden, mit Unbotmäßigkeiten, deren amtlicher Unterbindung, aber auch mit gelegentlichem Erfolg. Die Realitäten waren viel differenzierter als der zusammenfassende Rückblick es erscheinen lassen mag.
Was in den alten Bundesländern über lange Perioden entstanden und üblich geworden war, sollte nun in weniger als zwei Jahren in den neuen Ländern nachgebildet werden.
Aufgrund der in Wahrheit zum Teil recht unübersichtlichen Verhältnisse im universitären und außeruniversitären Wissenschaftsbetrieb war es bei der Vereinigung 1990 keineswegs einfach, angemessene Lösungen der zweifelsfrei bestehenden Probleme festzulegen. Die Maxime, dass eine einheitliche Wissenschaftslandschaft zu schaffen sei, war so unausweichlich wie problematisch, da sie die Übertragung des bundesdeutschen Wissenschaftssystems auf den Osten des Landes bedeutete. Was aber in den alten Bundesländern über lange Perioden entstanden und üblich geworden war, sollte nun in weniger als zwei Jahren in den neuen Ländern nachgebildet werden. Gewollt war das keineswegs nur von den Eliten in der alten Bundesrepublik, sondern auch von vielen neugierigen und erwartungsvollen Wissenschaftlern der neuen Länder, wenn auch die Erwartungen und Chancen in den beiden Teilen des Landes sehr unterschiedlich waren.
Welche Errungenschaften der DDR-Linguistik hatten Bestand?
In dem Bereich, zu dem die Linguistik gehört, ist immerhin in Form der (zunächst sieben, dann sechs) Geisteswissenschaftlichen Zentren eine eigene Variante der Forschungsorganisation eingerichtet worden. Sie ist mit gebührender Vorsicht und gegen heftigen Widerstand von Institutionen der alten Bundesländer entstanden als Neugestaltung von Ansätzen, die sich aus dem Nachlass der DDR ergaben. In diesen Zentren ist der Einigungsprozess längst abgeschlossen, die Gegenwart ist international.
Die Probleme und Unangemessenheiten, die mit den Umwertungen bei der Vereinigung verbunden waren, sind in den mehr als 15 Jahren, die seither die zunehmend einheitliche Wissenschaftslandschaft geprägt haben, weitgehend gegenstandslos geworden. Viele Personen sind mit ihren Schwierigkeiten auf allmählich ganz natürliche Weise verschwunden. Andererseits haben manche der völlig unumstrittenen Guthaben aus DDR-Zeiten, so zum Beispiel der Akademie-Wörterbücher, einen festen institutionellen Platz gefunden, den man gelegentlich sogar als solchen erkennt. Dominierend aber sind längst die Probleme aus der Zeit nach der Vereinigung, zu denen man getrost auch die Groteske des viel zu lange geltenden Osttarifs in der Vergütung gleicher Leistung zählen mag.
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