Im Rückblick auf vergangene Ereignisse wird häufig von Siegern und Verlierern gesprochen, es werden Erfolge und Mißerfolge dargestellt oder andere (vermeintlich!) eindeutige Zuschreibungen vorgenommen. Dass die Sache so einfach nicht zu haben ist, wurde beim Symposium “Wissenschaft und Wiedervereinigung” immer wieder deutlich.
Der Blick auf die unterschiedliche Entwicklung einer jahrzehntelang geteilten Wissenschaftslandschaft, den Umbruch von 1989/1990 und die sich anschließenden Transformationsprozesse zeigte, dass die Einteilung in Sieger oder Verlierer zum Scheitern verurteilt ist. Aber wen konnte das ernstlich wundern? Schließlich hatte der Wissenschaftshistoriker Mitchell Ash in seiner Keynote am gestrigen Vormittag schon auf diese grundlegende Einsicht hingewiesen: “Zeitgeschichte ist aus einer Perspektive nicht zu haben.”
Der Aufbau des gesamtdeutschen Wissenschaftssystems ist eine Erfolgsgeschichte. Eine Erfolgsgeschichte, die allerdings viele Verlierer produzierte.
Und um die Diskussion und Rekonstruktion dieser verschiedenen Perspektiven ging es eben bei dieser Veranstaltung im Berliner Akademiegebäude. Die Debatten während der 1 1/2 Tage waren lebhaft. Und es wurde deutlich, dass zwischen vielen Teilnehmern wirklicher Konsens über die (Be-)Deutung vieler Prozesse kaum herzustellen sein wird. Letztlich ließ sich allenfalls folgende These aufstellen, die wohl bei den allermeisten auf Zustimmung hoffen dürfte:
Die Gestaltung des gesamtdeutschen Wissenschaftssystems (die unter enormen Zeitdruck ablaufen musste und im mehrfachen Wortsinne beispiellos ist) ist eine Erfolgsgeschichte. Eine Erfolgsgeschichte, die allerdings (auf institutioneller und individueller Ebene) viele Verlierer produzierte.
Manfred Bierwisch, hochdekorierter Linguist (und Gastautor für dieses Blog) rief diese Ambivalenz in Erinnerung. Bierwisch erinnerte an den ungeheuren (Zeit-)Druck unter dem die Neustrukturierung ablief, schließlich sollte etwa die HU zu einer “ganz normalen Massenuni” umgestaltet werden. Das bedeutete freilich, dass innerhalb nur eines Jahres in den Sprachwissenschaften 20 Professuren neu besetzt werden mussten!
An dieser Mammutaufgabe gemessen, so Bierwisch, könne man mit dem Ergebnis durchaus zufrieden sein. Allerdings, so führte er weiter aus:
Man muß auch sagen: die Vereinigung hat stattgefunden auf Kosten und zu Lasten der Wissenschaftler in der DDR. Wenn man das schon nicht mehr ändern kann, wenn es schon keine Alternative dazu gab, dann muß man das wenigstens sagen dürfen. (Manfred Bierwisch)
Dass es also Verlierer gab, daran sollten man nicht zweifeln. Wie auch? Schließlich war die Transformation des Wissenschaftssystems nur nur ein Teilprozeß innerhalb eines übergreifenden politischen Prozesses, wie Renate Mayntz erinnerte. Und dieser Kontext ist eben insofern wichtig, als dass die “Abwicklung” der DDR-Wissenschaft eben auch eine politische Dimension hatte.
Mitchell Ash verdeutlichte das anhand von einigen Zahlen. Der Stellenabbau und die Entlassungen zwischen 1989-1994 waren umfassender – so Ash – als die Entlassungen bei den Regimewechseln von 1933 und 1945ff. zusammengenommen! Ein beispielloser Vorgang. Und Ash zitierte hier Götz Aly, der in diesem Zusammenhang feststellte:
“Die Bundesrepublik muß wohl ein sehr reiches Land sein, um auf derart viele Wissenschaftler verzichten zu können.” (Götz Aly)
Personalabbau, Umbrüche, Abwicklung und Brain Drain?
Am Nachmittag lieferte Peer Pasternack (Forschungsdirektor des Instituts für Hochschulforschung der Uni Halle-Wittenberg) weitere (mit Zahlen gesättigte) Informationen.
Insgesamt wurde an den DDR-Hochschulen rund 60% des Personals abgebaut. (25% des Potentials waren in Berlin konzentriert, weitere 25% in drei sächsischen Bezirken.) In der Akademie der Wissenschaften fand ein Abbau im selben Umfang statt. In der Industrieforschung ist gar ein Minus von 85% zu verzeichnen.
DDR war keine Insel der Unglückseligen!
Diese Zahlen lassen sich nicht wegdiskutieren. Doch wie sind sie zu bewerten? Ging es bei der sogenannten Abwicklung wenigstens weitgehend “gerecht” zu, wie lief die “Überleitung” von Wissenschaftlern ab? Welche Chancen und Perspektiven hatten DDR-Forscher überhaupt ab 1990?
Thomas Kuczynski, Wirtschaftshistoriker und letzter Direktor des Instituts für Wirtschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften der DDR brachte die Perspektive der Betroffenen ein. Für ihn steht fest: Die Evaluation war fachlich überflüssig.
“Ein Prüfer, bei dem alle Prüflinge durchfallen, da funktioniert irgendwas nicht.” (T. Kuczynski)
Und Kuczynski meckerte weiter. Er forderte auf, über den deutsch-deutschen Tellerrand hinauszuschauen. Und die Vorstellung – daran ließ er keinen Zweifel – , daß die DDR (insbesondere für Forscher) eine Insel der Unglücksseligen gewesen sei, halte er für grotesk.
“Wer sagt, er habe sich publizierte Literatur nicht verschaffen können, der war zu feige, zu faul oder zu blöd!” (T.Kuczynski)
Mit diesem Statement erntete er natürlich heftigen Widerspruch. Aber er blieb dabei: man habe sich die Literatur durchaus “organisieren” können.
Waren die Strukturen der DDR-Forschungslandschaft tatsächlich “wissenschaftsfeindlich”?
Ein abgewirtschaftetes Wissenschaftssystem
Die Gegenposition wurde unter anderem von Joachim Sauer vertreten (der übrigens sein Statement direkt mittels Notizen aus seinem aufgeklappten Macbook abgab). Er teile die Meinung, dass der Bereich der Wissenschaften ein gelungenes Beispeil der Vereinigung sei.
Und: “Ich teile die Ansicht, dass wir blühende Wissenschaftslandschaften haben.” So bestätigte er die Aussage von Dagmar Schipanski vom Vorabend.
Es gab – so Sauer – tolle Forschung in der DDR.
“Aber die Struktur war wissenschaftsfeindlich angelegt. Die Akademien waren das Ergebnis von 40 Jahren sozialistischer Kaderpolitik.”
Ein Drittel der Akademiemitarbeiter hätten nichts getan, und das andere Drittel habe das letzte Drittel am Arbeiten gehindert, so stellte er beinahe sarkastisch fest.
Die Meinungen, wie gesagt, gingen auseinander. Am Ende versuchte sich Jürgen Kocka an einer Bilanz. Er nahm Bezug auf Mitchell Ash und konstatierte: Wir müssen die Transformation als “Prozeß” verstehen!
Und er führte weiter aus: Es gab keinen zentralen Plan, keine expliziten Reformziele, die wirklich in Reinform verwirklicht werden konnten, da Zeitdruck und Komplexität dies nicht zuließen. Die “wissenschaftliche Wiedervereinigung” als Ereignis! Sie hat sich vollzogen, sie ist passiert, ohne dass jemand oder eine Institution eine zentrale Lenkungsfunktion innehatte. Und vor diesem Kontext müsse man dann wohl doch von einer Erfolgsgeschichte sprechen. – Verlierer inbegriffen…
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