Ein Nachtrag zu den Lügenbaronen, also zu der Tatsache, daß unter den Nazis im Auswärtigen Amt gebildete und gut verdienende Menschen zu Mördern wurden. Da stellt sich allgemein die Frage, ob und wie Bildung vor Verbrechen schützen oder zum moralischen Verhalten führen kann. Wenn sie das nicht tut, kann einem Bildung eigentlich gestohlen bleiben.
Bei Aristoteles gibt es den Hinweis, daß es die Wahrnehmung meines Gegenübers ist, die als Quelle meiner Moral dient. Ich versetze mich in seine Position und leide für ihn und mit ihm – wenn ich wahrnehme und nicht nur abstrakt mit leeren Begriffen hantiere. Wahrnehmung heißt “aisthesis”, und was Aristoteles sagt, kann man durch den Satz modernisieren, “Die Ästhetik ist die Mutter der Ethik” (Joseph Brodsky). Bildung ohne Erfahrung der Schönen – ohne Weltanschauung – bleibt ohne Moral. Das beamtete Leben im Auswärtigen Amt muss damals sehr hässlich gewesen sein. Und heute?

Kommentare (5)

  1. #1 Andrea N.D.
    Oktober 25, 2010

    Herr Fischer, glauben Sie wirklich, dass Bildung der alleinige oder hauptsächliche Faktor ist? Ist das nicht ein bisschen zu kurz gegriffen?

  2. #2 Anhaltiner
    Oktober 25, 2010

    Bei manchen ist Bildung kostenlos, bei anderen umsonst.

    Wäre schon chic wenn man wüsste wer, wann, wie zum Verbrecher wird, da beißen sich heute ja noch viele Gutachter die Zähne aus.

    Sind jetzt eigentlich auch alle Literatur-Nobelpreis-Träger Lügner? Auch die die nach 45 geboren sind, oder aus Länder stammen die nie die Waffen-SS gesehen hat?

  3. #3 Dirk Westermann
    Oktober 25, 2010

    Eigentlich war es ja noch viel schlimmer.
    Es gab nicht nur Akademiker, die in den nationalsozialistischen Behörden an den Verbrechen mitwirkten, sondern auch eine ganze Reihe von Staatsrechtlern wie Rudolf Huber, Georg Dahm und anderen der “Kieler Schule”, die der Naziideologie eine rechtsphilosophische Grundlage andichteten. Diese Leute haben dafür gesorgt, dass auch der letzte KZ Schlächter sich darauf berufen konnte, dass alle Taten “rechtmäßig” gewesen seien.

  4. #4 Jörg Friedrich
    Oktober 26, 2010

    In der Zusammenfassung dieses Artikels, die man hier leider nicht sieht, steht als Kernsatz “Bildung braucht die Erfahrung des Schönen, um uns moralisch handeln zu lassen.” Vielleicht kann man Aristoteles tatsächlich in diese Richtung verstehen. Ich halte die Verbindung von ästhetischer Wahrnehmungsfähigkeit und ethischem Handeln jedoch für gewagt, jedenfalls nicht für stabil. Mir scheint auch das Gegenteil möglich zu sein: Ästhetik kann auch als Grund für die Ablehnung und Ausgrenzung dessen, was als hässlich angesehen wird, dienen. Das Schöne wird oft als das Gute gedeutet, das Hässliche als das Böse diffamiert – und wie sollte Bildung davor schützen?

  5. #5 Dr. Webbaer
    November 1, 2010

    Da stellt sich allgemein die Frage, ob und wie Bildung vor Verbrechen schützen oder zum moralischen Verhalten führen kann. Wenn sie das nicht tut, kann einem Bildung eigentlich gestohlen bleiben.

    Korrekt. “Die Ästhetik ist die Mutter der Ethik.” hat der Webbaer zwar noch nie gehört, aber interessant. Was ist aber das Schöne? Als schön gilt das Einfache, das Elementare, aus anderer Sicht das Durchschnittliche. Ein durchschnittlich aussehender Mensch gilt entsprechenden Studien folgend als schön. Quentin Tarantino bspw. also wohl eher nicht, höhö.

    Hässlich idT die Mitarbeiter aus gutem Hause bei Ribbentrops Firma bzw. bei der von Neurath. Die Aristokratie war gerne dort im Amt, auch von Weizsäcker, der aus Sicht einiger das Schlimmste verhüten wollte – und dem Teufel diente, was logisch klingt.

    Richard von Wiezsäcker hats mal in einem seiner letzten Fernsehinterviews auf den Punkt gebracht: Man müsse auch gegenüber der Intoleranz tolerant sein, wenn … (die Erklärung hat der Wb nicht ganz verstanden, es ging wohl wieder um das Verhüten von Schlimmerem)

    Danke für den kleinen Artikel,
    MFG
    Wb