In der 6/11 Ausgabe von Spektrum der Wissenschaft findet sich ein schöner Aufsatz über die kausale Rolle der Gene (S. 60ff). Der Philosoph Marcel Weber fragt, wie man ausdrücken kann, was die Gene bewirken. Im Lehrbuch steht, daß sie für die Synthese von Proteinen zuständig sind und die Informationen dazu liefern. Das stimmt schon irgendwie, aber die Gene können das nicht allein. Wenn ein Feuer brennt, kann man zwar auch sagen, daß die Ursache ein Streichholz war, aber es braucht schon mehr für die Flammen – zumindest den Sauerstoff aus der Luft.
Es ist schon spannend, die kausale Rolle der Gene zu untersuchen, und man wüsste nur zu gerne, wie man sie ausdrückt, um Formulierungen wie “Gene für die Augenfarbe” oder “Gene für Neugierverhalten” besser verstehen zu können. Weber hält sich weise von diesen trickreichen Themen fern und fragt nur, wie man den elementaren Vorgang der Proteinherstellung kausal fassen kann.
Seine Antwort ist überraschend: Die Gene verdanken ihr kausale Sonderstellung dabei nämlich “einer Eigenschaft, die nie realisiert wird, sondern nur als Möglichkeit besteht”. Die Begründung dafür muss man bei Weber selbst lesen, der uns nach dieser Einsicht noch den allgemeinen Hinweis gibt, daß Möglichkeiten manchmal genauso wichtig sind wie die Realität selbst.
Da möchte ich freundlich widersprechen. Möglichkeiten sind wichtiger als die Wirklichkeit. Die Wirklichkeit vergeht nämlich, während die Möglichkeiten bleiben und uns Chancen geben – unseren Genen auch.

Kommentare (9)

  1. #1 YeRainbow
    Mai 27, 2011

    ja, die Formulierungen sind es.
    Im grunde müßte man korrekterweise sagen: Gene für die Anlage zu (xxx)

    und so ist es dann auch beim Menschen. auch wir haben unsere Anlagen (also in der makrowelt), wie die allerdings dann ausgeprägt und umgesetzt werden, hm….. ist ne andere Frage.

  2. #2 Dr. Webbaer
    Mai 27, 2011

    Schreiben Sie doch einmal, wie Sie die Gene verstehen; bisher gab es hauptsächlich zu lesen, was sie nicht sind. Sie sind kein Programm, keine Datenhaltung und keine Eigenschaft, die nie (vollständig?) realisiert wird?
    Und frisst die Wirklichkeit nicht die Möglichkeit?

    MFG
    Dr. Webbaer

  3. #3 YeRainbow
    Mai 27, 2011

    überleg jetzt gerade, ob das ne Fangfrage sein soll. Komisch kommts mir schon vor… ein Scherz?

  4. #4 YeRainbow
    Mai 27, 2011

    Und, ja, in gewisser Weise frißt die Wirklichkeit die Möglichkeit.
    nur ist das eine seltsame Formulierung. Die Möglichkeiten sind, wenn man so will, eine Art Möglichkeitenraum. Je nach Umständen fächern Möglichkeiten auf – und fächern auch welche zu.
    Aber das war wohl nicht gemeint, oder?

  5. #5 Jörg Friedrich
    Mai 27, 2011

    Fischer hat hier völlig Recht, denn die Möglichkeiten sind auch in der nächsten Generation wieder vorhanden, während die tatsächlich im Individuum realisierten Wirklichkeiten längst schon wieder vergessen sind.

  6. #6 Dr. Webbaer
    Mai 27, 2011

    Eine Gendatenhaltung, Dr. W bleibt bei diesem Begriff, hat keine Möglichkeiten mehr, wenn sie nicht mehr existent ist. – Zudem: Das Individuum wird auch nicht die Möglichkeiten interessieren, wenn es Probleme mit der Wirklichkeit hat.

    Die Wirklichkeit hier als “das was ist”, nicht als subjektiv empfundene. – Vermutlich macht es zudem hier Sinn zwischen der Realität (Sachlichkeit, ein abstrakter Begriff des Erkenntnissubjekts ) und der Wirklichkeit (dem, was beißt) zu unterscheiden.

    MFG
    Dr. Webbaer

    PS @YeRainbow: Herr Fischer stellt oft Scherzfragen, Dr. W natürlich nicht. 🙂

  7. #7 YeRainbow
    Mai 27, 2011

    ah, so.
    😉
    übrigens, um die Sache noch einen SChritt weiter zu verkomplizieren, auch die Möglichkeiten, die das Individuum realisierte, schlagen sich in der Nächsten Generation mitunter nieder – auch genetisch (oder sagen wir, somatisch).
    Daß Alkoholkonsum in der SChwangerschaft die Hirnentwicklung des Kindes (lebenslang) beeinflußt, ist ja bekannt, leider fallen mir nur negative Beispiele ein….
    So zB kann das Rauchen in der nächsten, auch in der übernächsten Generation die Neigung zum Diabetes verstärken.
    man muß halt bei genetischen und epigenetischen Vorgängen immer angeben, auf welcher Ebene man sich befindet….
    Und die Forschung ist da erst am Anfang.
    Wetten, daß alles noch viel komplexer ist?

  8. #8 Sebastian R.
    Mai 27, 2011

    Ich fand den Aufsatz von Marcel Weber alles andere als schön, weil er offenlegt, was Biophilosophen so für ein Quatsch von sich geben, nur weil sie mehr Zeit mit Denken als mit experimentellen Nachweisen verbringen. Demnach gibt es z.B. einige, die den Genen jegliche besondere Rolle in der Entwicklung eines Organismus absprechen. Ich frage mich, was diese Herrschaften mit ihrer Entwicklungssystemtheorie bewirken wollen, wahrscheinlich nur heiße-Luft-Blaserei. Anscheinend hat nämlich keiner daran gedacht, dass Biomoleküle, die für die Genexpression sonst noch so gebraucht werden, ebenfalls in Form von Genen im Erbgut vorhanden sind und ohne das Erbgut kann man einen Organismus direkt in die Tonne drücken. Schließlich müssen Umweltfaktoren auch erst einmal auf das Genom wirken, weswegen Gene bei der Entwicklung immer eine Rolle spielen, sogar die zentrale Rolle! Schön ist es wenigstens, dass der Autor des Artikels dies ähnlich sieht, aber am Ende seines Essays dann wieder ein Satz vom Stapel lässt, wo ich mich wieder fragen muss, ob die Person Ahnung hat oder nicht. Er schreibt nämlich

    Inwieweit einzelne Merkmale von genetischen Faktoren beeinflusst sind, lässt sich nur durch sorgfältige experimentelle Untersuchungen in Verbindung mit statistischen Analysen ermitteln – wenn dies denn überhaupt sinnvoll erscheint, was in vielen Fällen zu bezweifeln ist.

    Ignoranter könnte man kaum daherkommen, da zahlreiche genomweite Assoziationsstudien (GWAS) und Zwillingsstudien sich mit dem Thema der differentiellen Genexpression beschäftigen und auf diese Weise schon viele Kandidatengene und Umweltfaktoren gefunden werden konnten, die beim Ausbruch vieler Krankheiten eine Rolle spielen. Es ist also kein Wunder, wenn Forscher die Aussagen und Theorien von Philosophen nicht ernst nehmen, wie der Autor ja selber korrekt feststellt. Es ist nämlich meistens nichts anderes als Geschwafel, welches man immer wieder in allen möglichen Publikationen findet, die der Philosophie einen größeren Einzug in die Naturwissenschaft geben wollen, wie in diesem Fall hier, wo das Paper ebenfalls grandios gescheitert ist.

  9. #9 Anonym
    Juli 2, 2012

    Was bringen die beiden gegensätzlichen Meinungen bei der Suche nach Ursachen von Erkrankungen? Hier aus http://www.molekulartherapie.de

    (…) für die Suche nach Erkrankungsursachen in Frage zu stellen, muss man deren Anhängern nur folgende Frage stellen: Was passiert mit einem Organismus, der eine Woche lang keinen Zugang zu Trinkwasser erhält oder von einem tödlichen Virus befallen wird? Mit hoher Sicherheit sind nicht die Gene für sein Ableben verantwortlich.
    Auch die Ansichten der Entwicklungssystemtheoretiker sind relativ leicht widerlegbar. Zum einen negiert die strenge Paritätsthese absurderweise die Kausalität, denn die Frage nach Ursache-Wirkungs-Beziehungen braucht im Falle ihres Zutreffens gar nicht mehr gestellt werden, da alles von allem abhängt.
    Abgesehen davon kann die kausale Paritätsthese gar nicht zutreffen, denn aus der Erfahrung kann es keine Gleichberechtigung aller Zellbestandteile geben. Es ist ein großer Unterschied, ob die DNS einen großen oder unbedeutenden Gendefekt aufweist. Ebenfalls können nicht alle zig-tausend Zellbestandteile die gleiche Rolle bei einer bestimmten Wirkung spielen. Mit einer solchen Realität wäre Leben in der irdischen Form gar nicht zu vereinbaren, da es extrem fehleranfällig wäre. Wahrscheinlich würde unter diesen Umständen die Natur noch nicht mal in der Lage sein, primitive Einzeller zu erschaffen.
    Beide gegensätzliche Ansichten helfen bei der Analyse von Erkrankungsursachen oder Störungsszenarien im Zellstoffwechsel daher nicht weiter und sind auch eher als Extrempositionen aufzufassen. Die Wahrheit liegt irgendwo in der Mitte und es ist auch möglich, diese Mitte zu bestimmen.

    Neben den schon oben beschriebenen Schwächen basiert die Entwicklungssystemtheorie zusätzlich noch auf einem kapitalen Denkfehler, denn sie postuliert fälschlicherweise grundsätzlich die Zellprozesse als Folge von Aktivitäten der Zellsubstanzen, das heißt die Kausalbeziehung „Zellsubstanzen –> Zellprozesse“.

    Daher stellt sich zunächst die Frage, wie ihre Anhänger das begründen. Da eine Begründung dieser entscheidenden Aussage nicht stattfindet, müssen wir davon ausgehen, dass es sich dabei wohl um eine reine Bauchentscheidung handelt. Und es erscheint ja auch auf den ersten Blick logisch, diese Annahme zu vertreten, denn Prozesse benötigen Zellsubstanzen. Welche Auskünfte gibt das Zellprozessmodell?

    Zellsubstanzen sind im Zellprozessmodell (Abbildung 6) und den dort dargestellten Abhängigkeiten so gut wie nicht vertreten. Es beinhaltet acht Faktoren und vier Prozessgruppen. Einige wenige Peptide, die im Zusammenhang mit der Proteinbiosynthese die Genregulation mechanistisch durchführen und steuern, sind aus Gründen der darstellerischen Klarheit in die Graphik aufgenommen worden. Dadurch wird sowohl die Dominanz der Proteinbiosynthese als auch einer der Kreisläufe des Zellmetabolismus verdeutlicht. Verschiedene ncRNS sind zwar Zellsubstanzen, gehören aber nicht zum Kernprozess und sind den Faktoren zugeordnet. Sowohl die Boten-RNS als auch die Chromosomen sind reine Zwischenprodukte des Proteinsyntheseprozesses. Wo sind also die zig-tausende Enzyme und Proteine, die im Rahmen des Zellmetabolismus entstehen und angeblich für die Prozesse ursächlich verantwortlich sein sollen? Wurde etwas übersehen?

    Die Antwort ist nein, denn die Darstellung der Zellsubstanzen ist entbehrlich, da sie mit den Zellprozessen eine symbiose-ähnliche Einheit bilden, denn Zellprozesse manifestieren sich ausschließlich in der Anwesenheit von Zellsubstanzen. Sind nämlich alle für einen bestimmten Zellprozess nötigen Enzyme und Proteine vorhanden, funktioniert der Prozess selbsttätig und einwandfrei. Es gibt keine „unsichtbare Hand“, die das Ganze steuert. Es ist sehr simpel: Fehlen Substanzen, funktioniert der betreffende Prozess entweder gar nicht oder er läuft unvollständig. Der Kausalzusammenhang „Zellsubstanzen –> Zellprozesse“ hat damit eher einen tautologischen Charakter oder ist bestenfalls trivial. Richtigerweise heißt es demnach „Zellsubstanzen = Zellprozesse“.

    Aber das hilft auch nicht weiter bei der Suche nach Ursachen für Fehler im Zellstoffwechsel, denn es sollen ja Ursache-Wirkungs-Beziehungen postuliert werden und ein Gleichheitszeichen macht keine dementsprechende Aussage.

    Aus diesen Überlegungen muss der Schluss gezogen werden, dass hinter fehlerhaften Prozessen etwas ganz anderes stecken muss als fehlerhafte oder fehlende Substanzen. Leider hören hier die Überlegungen der Entwicklungssystemtheoretiker auf. Denn sie müssten nur die eigentlich interessante Frage stellen und beantworten: Aus welchen Gründen sind Zellsubstanzen fehlerhaft oder fehlen ganz?

    Die Antwort ergibt sich unmittelbar aus der Darstellung des Zellprozessmodells:

    Zellsubstanzen fehlen oder sind für ihre Aufgaben ungeeignet, wenn der Proteinsyntheseprozess fehlerhaft ist.
    Die Proteinsynthese ist fehlerhaft, wenn nicht alle dafür notwendigen Faktoren zur Verfügung stehen oder diese fehlerhaft sind.

    Es liegt demnach folgende Kausalbeziehung vor: „Faktoren –> Zellsubstanzen = Zellprozesse“ oder, wenn jemand partout auf dem trivialen Zusammenhang von Substanzen und Prozessen besteht, die Kausalkette „Faktoren –> Zellsubstanzen –> Zellprozesse“. Letzteres ändert dabei aber nichts: Die Faktoren sind die Herren der Prozesse. Die gesamte Zellmaschinerie kommt ins Stottern, wenn Faktoren fehlen oder diese aus anderen Gründen nicht einsatzfähig sind.

    In zwei Fällen liegt die Entwicklungssystemtheorie richtig: Bei den (nichtcodierenden, kurzkettigen) Ribonukleinsäuren handelt es sich tatsächlich um zelleigene Zellsubstanzen – allerdings mit der Besonderheit, dass sie die Proteinbiosynthese steuern, ohne selber Teil des Kernprozesses zu sein. Die Chromsomen sind ebenfalls Zellsubstanzen, und als Zwischenprodukt – anders als die ncRNS – direkt der Prozesskette zuzuordnen. Daher zählen sie nicht zu den Faktoren. In diesen beiden Fällen stimmt die Behauptung der Entwicklungssystemtheorie also, jedoch nicht bezüglich der großen Menge unzähliger Enzyme und Proteine, was aber Kern ihrer Aussage ist.

    Es herrscht im Zellmetabolismus damit eine Dominanz der Faktoren über die Prozesse. Dieses Postulat hier in seiner vollständigen Formulierung:

    Im Zellmetabolismus funktioniert ein Prozess, wenn alle dafür nötigen Zellsubstanzen (Peptide) zur Verfügung stehen, das heißt…

    es ist der Faktor “korrekte Erbinformation” bei der Fertilisation (= Verschmelzung der mütterlichen und väterlichen Gene) entstanden,
    die Faktoren Sauerstoff, Wasser, Kohlenhydrate und Nahrungsfette bzw. die dazu notwendigen Aminosäuren und Mikronährstoffe stehen in ausreichender Menge zur Verfügung und
    nicht-codierende Ribonukleinsäuren führen ihre Aufgaben im Rahmen der Modulation von Transkription und Translation fehlerfrei durch. (…)