In seinem gerade auf Deutsch erschienenen Buch “Freie Radikale” erläutert der Brite Michael Brooks, “warum Wissenschaftler sich nicht an Regeln halten” (Springer-Spektrum, Heidelberg 2014). Große Teile des Buches widerlegen die sich in beamteten Gehirnen haltende Idee, es gebe eine Logik der Forschung, mit der schon alles ins Lot kommt und weiter geht. Brooks erzählt spannend, wie – auf der positiven Seite – Träume und – auf der negativen Seite – persönliche Feindschaften und Egotrips die Wissenschaft voranbringen und die am weitesten kommen, die am großzügigsten mit den Fakten umgehen. Zuletzt verrät Brooks die Weisheit eines Menschen, der jahrzehntelang an einem berühmten Institut gearbeitet hat und mehr als zwei Dutzend Nobelpreisträger hat kommen und gehen sehen. Was ist das Geheimnis dieser Menschen, will Brooks wissen, und der Kenner dieser Leute fasst seine Erfahrungen in zwei Punkten zusammen: “Unbeirrbarkeit. Sie lassen sich durch nichts und niemanden aufhalten. Und sie haben ein ausgeprägtes Ego. Sie sind unglaubliche Egoisten. Sie wissen irgendwie, dass sie recht haben, ganz gleich was andere sagen.” Jetzt versteht Brooks und der Leser mit dem Autor: Wissenschaftler sind insgeheime Anarchisten. “Sie machen ihre Entdeckungen nicht trotz ihres [manchmal unerträglichen] menschlichen Verhaltens, sondern genau wegen ihm. Wenn wir mehr wissenschaftlichen Fortschritt wollen, müssen wir noch mehr Rebellen befreien, mehr Ausgestoßene, mehr Anarchisten, mehr Radikale. Die Zeit ist gekommen, die Anarchie zu feiern, statt sie zu verstecken.”

Jetzt muss die Öffentlichkeit den Mut dazu zeigen.

Kommentare (3)

  1. #1 Angelika Wittig
    Berlin
    Juni 5, 2014

    Ihr Beitrag ist das traurigste, was ich in letzter Zeit gelesen habe.
    Allerdings bestätigt er mir eindrucksvoll, dass die Nobelpreise ihre Bedeutung verloren haben, wenn sie nur an Egoisten verliehen werden.
    Nobelpreise sollten eigentlich dafür verliehen werden, dass bestimmte Arbeitsergebnisse eines Forschers die ganze Menschheit voranbringen können, nicht dazu, den Marktwert eines Wissenschaftlers zu steigern, wie es heute leider oft interpretiert wird.
    Beharrlichkeit ist richtig und wichtig, wenn man seine Ziele kennt, wenn man weiß, was Sehnsucht nach Vollkommenheit bedeutet.
    Egoismus ist nicht wichtig, eher schon Eigensinn (So wie Hesse ihn definiert).
    Oder das “Liebe deinen Nächsten wie dich selbst” aus der Bibel, weil ohne Eigenliebe auch keine Liebe zu anderen Mitmenschen möglich ist. Nur so können wertvolle Forschungsergebnisse entstehen.
    Die Indianer lehren ihre Nachkommen seit jeher, ihre eigene Wichtigkeit zu verlieren als höchste Fähigkeit – diese Kunst beherrschen die wenigsten Wissenschaftler, aber es waren immer die besten, wie zum Beispiel Michael Faraday oder Arnold Sommerfeld.
    Dinge zu hinterfragen, Mut zur Veränderung und weniger Autoritätsgläubigkeit verursachen keine Anarchie.
    Sie sind natürliche Abweichungen von vorhandenen Trägheitsbahnen.
    Nicht jeder Rebell ist ein Revolutionär, nicht jeder Nobelpreisträger ist ein Ethikmensch.
    Sogar hier hatte Albert Einstein recht: “Nicht die Atombombe ist unser Problem, sondern die Trägheit des menschlichen Herzens.”
    Besser noch sagt es wieder ein Indianer:
    Wenn du schnell gehen willst, musst du allein gehen, wenn du weit gehen willst, musst du mit anderen zusammen gehen.

  2. #2 Chemiker
    Juni 5, 2014

    Ich habe als Student einmal an einer Nobelpreis­träger-Konferen in Lindau teilgenommen. Dabei hatte ich sogar Gelegenheit, mich mit einer echten Legende zu unterhalten, Vladimir Prelog. Er war damals natürlich schon sehr altersweise.

    Später im wissenschaftlichen Leben habe ich nur einen kennen­gelernt, der Stock­holm-Potential hatte, nämlich Anton Zeilinger. Ich hatte bei ihm immer das Gefühl, einen Jungen vor mir zu haben, der das Spielen nicht verlernt hat. Seine Freude daran, der Natur noch etwas besser hinter die Karten schauen zu können, wirkte ungemein ansteckend.

    Wenn das Egozentriker waren, dann hatten sie sich extrem gut getarnt.

  3. #3 Trice
    Juni 7, 2014

    Dass wissenschaftlicher Fortschritt sich nicht einer Logik der Forschung verdankt, mit der alles ins Lot kommt, stellte auch schon Thomas Kuhn in seiner Struktur wissenschaftlicher Revolutionen fest.
    Aber warum sind Wissenschaftler, die unbeirrbar an ihrer Idee fest-,sich nicht an die Regeln (Wider den Methodenzwang und Anything goes meinte schon Feyerabend) und nicht aufhalten lassen, deshalb schon Egoisten? Weshalb sollten sie aufgeben, wenn sie doch absolut sicher sind, dass sie recht haben ( Die Vernunft der Sache sei zu evident, sagte Einstein – und Sie, Herr Prof. Fischer schrieben damals, Einstein habe das zu sagen gewagt, weil er seinem Gefühl vertraut habe und vollkommen befriedigt gewesen sei)?

    Sind diese Leute also deshalb schon Egoisten, weil ihnen mit Feindschaft begegnet, ihnen Widerstand entgegen gesetzt wird? Wo wäre denn die Wissenschaft oder die menschliche Gesellschaft, wenn sich diese Leute hätten aufhalten lassen?

    Es ist wohl auch weniger die Öffentlichkeit, die Mut zeigen muss. Es sind in erster Linie die Wissenschaftlerkollegen, die ihn haben müssen, denn nur sie können beurteilen, ob an einer Idee etwas “dran” ist, die zulassen müssten, dass neue Wege gegangen werden.

    Was die Öffentlichkeit betreffend gefordert werden kann, ist der Mut, Andersartigkeit zuzulassen. Denn im Kind erkennt man noch nicht, ob es eines Tages imstande ist, etwas Großes zu leisten.