Wir wissen schon länger, dass das Weltall voller Dunkelmaterie – in Sinne von unsichtbaren Bestandteilen mit bestenfalls schwacher Wechselwirkung – ist. Die Genetiker reden seit kurzem davon, dass es im Erbgut Dunkelmaterie – im Sinne von unverstandenen Sequenzen – gibt. Und nun lese ich in einem Roman das französischen Nobelpreisträgers Patrik Modiano mit dem Titel “Der Horizont”, dass jemand die folgende Empfindung haben kann, wenn er ein Notizbuch führt und das mit seinen Eindrücken und Erinnerungen füllt: “Er fühlte nur allzugut, was alles, hinter den genauen Ereignissen und vertrauten Gesichtern, zu dunkler Materie geworden war: kurze Begegnungen, verpasste Rendezvous, verlorene Briefe, Vornamen und Telefonnummer, die in einem alten Taschenkalender stehen und die man vergessen hat, und all die Frauen und Männer, deren Wege man gekreuzt hat, ohne es überhaupt zu merken. Wie in der Astronomie war diese dunkle Materie gewaltiger als der sichtbare Teil des Lebens. Sie war unendlich.”
Also – Dunkelmaterie setzt sich doppelt zusammen, nämlich aus Dingen, die man vergessen hat, und Dingen, die man gar nicht bemerkt hat. Stellt sich die Frage, wie der Romanheld, der diese Gedanken in seinem Kopf wälzt, es anstellen will, in diese dunkle Materie einzutauchen, wie er es gerne möchte, um abgerissene Fäden wieder zu verknoten. Wie kann man verknoten, was man nie hatte? Das wäre die dritte Art der Dunkelmaterie, die der Nobellaureat seinen Lesern auftischt, die sich ratlos wundern. Man muss aber nicht alles gut finden, was “im Nebel verdrehter Worte dunkel daherkommt.” So kann man es bei Lukrez lesen, und der römische Dichter hat sich so klar vor über 2000 Jahren geäußert. “Der Horizont” von Modiano bleibt sehr eng, und die Entscheidungen der Nobeljury dunkel, und zwar unendlich.
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