Zu den Gefahren beim jubilierenden Feiern großer Geister gehört es, ihnen zu unterschieben, sie hätten das, was nach ihnen gedacht worden ist, schon vorweggenommen. In seiner ansonsten glänzenden – wenn nicht überragenden – Hegel Biographie, in der Jürgen Kaube die Leser in “Hegels Welt” entführt, meint der Autor in den Schriften des Philosophen Hinweise auf das zu finden, was später Charles Darwin dem werdenden Wissen hinzufügen konnte, nämlich das Werden auch der Organismen und des Lebens. An anderer Stelle ist Kaube vorsichtiger, und er hütet sich zum Beispiel, Hegels Verwendung des Wortes “Quantum” – verstanden als eine qualifizierte Menge, eine Zahl verbunden mit einer Messeinheit – auf die moderne Quantentheorie zu beziehen, aber da hätte ihn etwas locken können. In seiner “Einleitung zur Phänomenologie des Geistes” stellt Hegel Erkennen nämlich erst als ein Werkzeug vor, mit dem sich der Geist “des absoluten Wesens … bemächtigen” möchte (was immer das heißen soll), um dann zu konstatieren: Es “fällt sogleich auf, dass die Anwendung eines Werkzeugs auf eine Sache sie vielmehr nicht lässt, wie sie für sich ist, sondern eine Formierung und Änderung mit ihr vornimmt.” Genau das sagt die Quantenmechanik auch: Da es mindestens ein Quantum der Wirkung zwischen dem Beobachtenden und dem Beobachteten ausgetauscht werden muss, um etwas messen zu können, ändert das Anwenden eines dafür geeigneten Werkzeugs das Objekt der wissenschaftlichen Begierde. Menschen kennen nicht die Welt, wie sie für sich ist, sondern wie sie verändert worden ist. Ob Hegel das wirklich so genau – auf ein Quantum genau – wissen wollte?

Kommentare (4)

  1. #1 Kai
    September 11, 2020

    Darwin hat ja auch die Idee mit der Evolution nicht erfunden. Die kursierte schon lange Zeit vor ihm in Fachkreisen (ich erinnere mich, dass selbst Goethe in Faust über die Evolution der Arten philosophierte).

    Darwins überragender Beitrag war, dass er erkannte, dass diese Evolution auf einem natürlichen Selektionsprozess beruht. Bis dahin ging man wohl eher davon aus, dass es irgendeinen aktiven Prozess geben müsste, der die Veränderung der Arten bewirkt. Besonders bekannt ist heute immer noch die Hypothese Lamarcks: aus der Beobachtung, dass ja auch der menschliche Körper sich an die äußeren Bedingungen anpasst (Haut wird dunkler durch viel Sonne, Muskeln werden größer bei Anstrengungen) ging er davon aus, das diese Veränderungen auf die Nachkommen vererbt und so die Evolution bewirken (quasi wie eine Giraffe, die immer mehr den Hals streckt und dadurch einen immer längeren Hals bekommt).

    Die Idee einer atomar zusammengesetzten Welt geht ja auch bis zu den Griechen zurück, was wirklich spannend ist. Trotzdem würde niemand den Griechen bescheinigen, das Bohrsche Atommodell vorrausgesagt zu haben. Tatsächlich ist die moderne Physik, Quantenphysik und Relativitätstheorie, so abgefahren und fernab der Intuition, dass es schon eine spannende Frage ist, wer derartige Entwicklungen womöglich vorausgeahnt hat. Aber natürlich ist es immer nochmal eine völlig andere Leistung, eine solche Ahnung wissenschaftlich zu bestätigen!

  2. #2 MartinB
    September 14, 2020

    Genau das sagt die Quantenmechanik natürlich nicht.
    Ich empfehle mal googeln nach dem Stichwort “interaction-free measurement”. Man kann Dinge messen, ohne mit ihne zu wechselwirken.

  3. #3 Frank Wappler
    September 18, 2020

    Ernst Peter Fischer schrieb (10. September 2020):
    > [… dass] mindestens ein Quantum der Wirkung zwischen dem Beobachtenden und dem Beobachteten ausgetauscht werden muss, um etwas messen zu können

    Jedenfalls

    – muss man Beobachtungen gesammelt haben, um sie auswerten zu können und ein informatives Ergebnis zu erhalten,

    – ist das Feststellen einer Beobachtung mit einer Veränderung “von der Aufmerksamkeit zur Wahrnehmung” verbunden, und

    – verstehen sich solche Veränderungen eines Beobachtenden als Auswirkung des (Sich-Veränderns des) Beobachteten.

    MartinB schrieb (#2, September 14, 2020):
    > […] Stichwort “interaction-free measurement”.

    Zu diesem Stichwort findet sich einiges Öffentliches;
    insbesondere dieser Artikel selbigen Titels, von namhaften Autoren (P. Kwiat et al.).

    [ An dieser Stelle unterbreche ich meinen Kommentar, im Gedenken an [[Hanlon’s razor]]. …]

  4. #4 Frank Wappler
    September 18, 2020

    MartinB schrieb (#2, September 14, 2020):
    > […] Man kann Dinge messen, ohne mit ihnen zu wechselwirken.

    Falls z.B., wie im oben (#3) genannten Artikel von P. Kwiat et al. beschrieben und in Fig. 4 skizziert,

    – in einer Versuchsreihe eine Signalquelle und zwei (unterscheidbare, am besten durch die Signalquelle getriggerte) Detektoren so vorgefunden bzw. »adjusted« wurden, dass der eine Detektor als »bright port« und der andere als »dark port« qualifiziert wäre,

    – und in einer weiteren Versuchsreihe ein »object« derart dazugekommen war, dass es von der Signalquelle höchstens selten bis gar nicht beleuchtet würde, aber “dafür” der sogenannte »dark port«-Detektor um so häufiger,

    dann …
    … gelangt man wohl zu dem Messergebnis, dass …
    die Versuchsanordnung abgesehen vom hinzugefügten »object« im Wesentlichen »adjusted« geblieben war, und sich nicht z.B. weitere “Objekte” eingeschlichen hätten, die gelegentlich be- bzw. durchleuchtet werden und sich als “optisch aktiv, und relevant” erweisen könnten.

    Kurz:
    Wer sich so versichert hat, dass die Versuchsanordnung, vermittels der die Signalquelle und die Detektoren miteinander wechselwirkten, in den beiden Versuchsreihen durchwegs als Elitzur-Vaidman(-Kwiat)-Bombentester qualifiziert gewesen ist, kann anfangen sich Sorgen darum zu machen, ob und wie sich das betreffende »object« wieder verflüchtigt.

    p.s.
    Zur vollständigen Offenlegung: Im oben verlinkten Artikel von Kwiat et al. ist mir schon auf dessen erster Seite eines nicht ganz verständlich:

    The initial proposal of [Elitzur and Vaidman] employs an interferometer aligned so that an incident photon […] will with certainty exit via a given output port, the “bright” port. Thus […] the photon will never be detected in the “dark” output port. The presence of an absorbing (or, more generally, nontransmitting) object changes completely the possible outcomes […]. For a beam splitter of reflectivity R (and transmissivity T = 1 - R), any incident photon will encounter the object with probability R and be absorbed. There is a probability R^2 that the photon will still exit on the bright port […] However, there is also a probability R \, T that the photon will exit to the dark port.

    Ist die Wahrscheinlichkeit, dass das (Signalquellen-)Photon zum »bright port« gelangt, im letzteren Fall (“mit »object«“) nicht stattdessen T^2 ?
    (Insbesondere auch im Hinblick auf Fig. 4.
    Man beachte auch: T^2 = T \, (1 - R) = T - (R \, T) = 1 - R - (R \, T).)