Der als Ideenhistoriker berühmte, aus Litauen stammende und in Oxford lehrende politische Philosoph Isaiah Berlin (1909-1997) hat einmal in den Fragmenten des griechischen Dichters Archilochos einen Satz gefunden, der ihn beschäftigt hat. “Der Fuchs weiß viele Dinge, aber der Igel weiß eine große Sache.” Vielleicht wollte Archilochos mit diesen Worten nur seine Sicht verdeutlichen, dass ein Fuchs bei aller Schlauheit vor den Stacheln des Igel kapitulieren muss. Aber Berlin nimmt die Unterscheidung auf, um Figuren der Weltgeschichte zu charakterisieren. Dante ist für ihn ein Igel. während Shakespeare ein Fuchs ist. Platon und Hegel sind Igel, während Aristoteles und Goethe Füchse sind, worüber sich trefflich streiten lässt.
Berlin versucht nun in seinem Essay “Der Igel und der Fuchs” (Bibliothek Suhrkamp 1442) herauszufinden, wie man am besten Geschichte versteht, also Geschichtswissenschaft zu treiben versucht, als Fuchs oder als Igel. Geht das vor allem mit einer großen Theorie oder mit vielen Schilderungen von einzelnen Vorfällen?
Berlin liebt eine Anmerkung des Dichters Tolstoi, der die Geschichtswissenschaft seiner Epoche mit einem tauben Menschen vergleicht, der auf Fragen antwortet, die ihm niemand gestellt hat. Tolstoi wütet gegen Soziologen, die meinen Gesetze der Geschichte entdeckt zu haben und dabei übersehen, dass die Zahl der Ursachen, von denen Ereignisse abhängen, viel zu groß ist, um alle von Menschen gekannt zu werden. Sie setzen an die Stelle der vielfarbigen Realität die blasse Abstraktion ihrer Theorie. Um der Wirklichkeit der Historie nahe zu kommen, muss man sie poetisch fassen, die Geschichte als Geschichte erzählen, wie es Tolstoi in seinem Roman “Krieg und Frieden” unternommen hat. Dann kann der wahrnehmende Fuchs zum dichtenden Igel werden, und mit seiner Hilfe erschließt sich die Welt. Der Teil und das Ganze. Jeder Mensch führt als Atom sein Leben für sich und ist doch zugleich Träger der historischen Entwicklung. Fuchs und Igel. Man hat die Wahl.
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