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Muhle, Susanne/Richter, Hedwig/Schütterle, Juliane (Hrsg.): Die DDR im Blick. Ein zeithistorisches Lesebuch, Berlin 2008;

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Hüttmann, Jens: DDR-Geschichte und ihre Forscher. Akteure und Konjunkturen der bundesdeutschen DDR-Forschung, Berlin 2008.

Der als „Lesebuch” getarnte Aufsatzband zu sehr unterschiedlichen Themen der DDR-Geschichte (Muhle/Richter/Schütterle 2008) wie DDR-Traumschiffen, ostdeutschen Modemachern und sozialistischen Sportlern ist teilweise sehr lesenswert. Die kurzen Essays stammen von 28 aktuellen und ehemaligen Stipendiaten der „Bundesstiftung zur Aufarbeitung der DDR-Geschichte”. Sie behandeln vielfach auch Themen der Alltagsgeschichte und sind für die zeitgeschichtliche Unterrichtsvorbereitung und -gestaltung als Anregung geeignet.

Zur vertiefenden Lektüre lohnen sich die Texte „Vom Mythos einer kämpferischen Klasse. Die Kampfgruppen der Arbeiterklasse und ‚der Schutz der sozialistischen Errungenschaften'” (Tilmann Siebeneichner, S. 39-50), „Mit ‚Blitz’ und ‚Donner’ gegen den Klassenfeind. Kriminelle im speziellen Westeinsatz des Ministeriums für Staatssicherheit” (Susanne Muhle, S. 159-168), „’Flaggen, Hymnen und Medaillen’. Die gesamtdeutsche Olympiamannschaft und die kulturelle Dimension der Deutschlandpolitik” (Uta Andrea Balbier, S. 201-210), „So sah die DDR im Jahr 2000 einmal aus. Mutmaßungen über die Zukunft der SED-Diktatur in der Bundesrepublik vor 1989″ (Jens Hüttmann, S. 221-228) und „Selbsttötung oder durch die Staatssicherheit verschleierter Mord? Vier Beispiele aus den achtziger Jahren” (Udo Grashof, S. 269-280).

Tilmann Siebeneichner skizziert mit Hilfe von autobiografischen Berichten die Geschichte der aus gewöhnlichen, sich freiwillig verpflichtenden Werktätigen nach dem 17. Juni 1953 zusammengesetzten Betriebskampfgruppen. Nach dem blutigen Arbeiteraufstand hatten die kommunistischen Führer permanent Angst, dass sich ein solches Ereignis wiederholen könnte. Die Kampftruppen der Arbeiterklasse, die unter Anleitung der Volkspolizei paramilitärische Übungen absolvierten, halfen ebenso beim Mauerbau 1961. Trotzdem mussten sie ihre Waffen nach Übungen wieder abgeben, weil die SED ihrer eigenen Parteimiliz misstraute. 1989 brachen die Strukturen der Schattenkrieger rasch zusammen, zumal diese nicht als „Knüppelgarde der SED” fungieren wollten und der „Feind” gleichzeitig unter Verwandten, Freunden und Kollegen hätte gesucht werden müssen.

In äußerst spannender Form durchleuchtet Susanne Muhle Entführungspraktiken des Ministeriums für Staatssicherheit in Westdeutschland. Dabei ging es der Staatssicherheit nicht nur um die effektive Bekämpfung von Gegnern der SED-Diktatur und Regimekritikern, sondern auch um die „Heimholung” von Flüchtlingen, die vorher selbst bei den Sicherheitsorganen der DDR gearbeitet hatten. In diesem Zusammenhang setzte die DDR-Gedankenpolizei MfS gerne auch Kriminelle ein, wie die Historikerin am Beispiel des West-Berliners Hans Wax (1927-1984, GM „Donner”) und zahlreichen Aktenfunden nachweist.

Uta Andrea Balbier beschäftigt sich mit der Geschichte der gesamtdeutschen Olympiamannschaften zwischen den Spielen 1956 bis 1968, an der sie exemplarisch auch das „Auseinanderleben” der zwei deutschen „Brüder” im Sport und der Politik beschreibt. Spätestens nach den Olympischen Sommerspielen 1964 in Tokio und zahlreichen Konflikten rund um die Mannschaft war das gesamtdeutsche Sportprojekt zum Scheitern verurteilt, zumal in Japan die Mehrheit der Sportler aus der DDR kam und deren Erfolge vom DDR-Propagandaapparat ausgeschlachtet wurden, um die Überlegenheit des Sozialismus zu stilisieren. In Grenoble und Mexiko-Stadt (1968) traten die west- und ostdeutschen Mannschaften dann schon getrennt, aber mit gleicher Flagge und Hymne, auf.

Jens Hüttmann offenbart durch pointierte Beispiele, dass die professionelle westdeutsche Geschichtswissenschaft vor 1989 in ihrem „Prognosedebakel” nicht mit einem vorzeitigen Ende der DDR rechnete. Sein Fazit ist, dass „man sich heute davor hüten sollte, ihre Geschichte allein von ihrem Ende her zu betrachten” und in diesem Zusammenhang die „relative Stabilität der SED-Diktatur” weiterhin auf der zeithistorischen Tagesordnung stehen müsse.

Udo Grashoff analysiert anhand von vier Todesfall-Beispielen des Finanzministers Siegfried Böhm (+ 1980), des US-Sängers Dean Reed (+ 1986), des Agenten „Werner Schneider” (+ 1988) und dem Musikproduzenten „Charlie” (+ 1980), ob die Staatssicherheit nach dem Motto ihres Chefs Erich Mielke „Hinrichten, wenn notwendig auch ohne Gerichtsurteil” vermeintliche „Verräter” tötete. Der Wissenschaftler versucht mit dem wenigen vorhandenen Aktenmaterial nachzuweisen, dass es solche Tötungsaktionen durchaus gab, man anhand der besprochenen Beispiele aber ebenso davon ausgehen muss, dass es bei den Fällen genauso ebenso um Selbsttötungen gehandelt hat, die einen privaten oder durch die Staatssicherheit verstärkten psychischen Hintergrund hatten. Durch mangelhafte Recherchen auf Zeitzeugenbasis durch meist westdeutsche Journalisten und die Verschleierung der SED-Führung gaben die Fälle Anlass zu vielfachen Verdächtigungen und Verschwörungstheorien.

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In seiner 2008 veröffentlichten Dissertation „DDR-Geschichte und ihre Forscher” historisiert Jens Hüttmann selbst die wissenschaftliche Beschäftigung mit der untergegangenen SED-Diktatur, die er chronologisch in zwei Phasen vor 1990 und die Zeit nach der Wiedervereinigung einteilt.

Dazu hat er neben vorhandenem Quellenmaterial auch Nachlässe und Interviews mit DDR-Forschern aus der in der Bundesrepublik nie als eigenständig anerkannten zeithistorischen Disziplin gesprochen und stellt zahlreiche Institutionen, Wissenschaftler und deren Verflechtungen vor. In der eher für das Fachpublikum geeigneten umfangreichen Spezialdarstellung legt der Autor dar, wie die Wissenschaftler immer auch von der politischen „Großwetterlage” und der daraus resultierenden Finanzierung ihrer wissenschaftlichen Arbeit abhängig waren. Gleichzeitig wurde in den 1990er-Jahren deutlich, dass sich viele Historiker und Sozialwissenschaftler durch das vor der Wiedervereinigung fehlende Aktenmaterial, nicht vorhandenen Analyseerfahrungen und teilweise auch ideologischer Verblendung ein nachträglich zu korrigierendes Bild der DDR entwarfen, in dem ab den 1970er-Jahren der totalitäre, menschenverachtende Charakter der SED-Diktatur während der Entspannungsphasen des Kalten Krieges zu kurz kam.

Kommentare (1)

  1. #1 Harald
    März 2, 2010

    An dieser Stelle mal ein Dankeschön für die Zeittauchfahrten. Ich war bei dem Besuch des Museums in der Runden Ecke in Leipzig entsetzt über die miefige Brutalität der “Staatsorgane”.