Vor längerer Zeit stellte mein Vorgesetzter in einer Besprechung ein Beispiel dafür vor, wie leicht die Intuition fehl gehen kann, wenn es um das Einschätzen von Risiken geht. Vor vier Jahren hatte ich schon meinen Beitrag beim Schreibwettbewerb damit eingeläutet und weil es so schön ist, fange ich auch hier damit an. Es geht natürlich um den Mercedes-Benz Baureihe 115 von 1968. Ein Auto, das man nicht alle Tage auf der Straße sieht, nach dem man sich umdrehen wird, das zur Vergnügungsfahrt einläd. Zugegebenermaßen ein Symbol der bürgerlichen, spießigen Bundesrepublik der 1960er und 70er Jahre. Aber trotz allem schön.
Dieses Auto hat wie es da steht einige Interessante Sicherheitsmerkmale:
- Der /8 hatte ursprünglich keine Sicherheitsgurte. Dieses Extra gab es erst ab den 70er Jahren und war erst verpflichtend seit den 80ern. Standard wurde es erst beim Nachfolger, dem W123
- Dieses Auto hat eine Starrkarosse, die sich bei einem Unfall kaum verformt. Es gibt keine Knautschzonen – die gesamte Energie des Einschlags wird an die Teile weitergegeben, die am wenigsten Widerstand leisten. Das sind in der Regel die Fahrgäste
- Die A-Säule bricht bei vielen Unfällen und kann sich aufgrund ihrer Geometrie in den Innenraum schieben
- Die Karosse kann sich beim Unfall so verziehen, dass sich die Türen nicht mehr öffnen lassen. Moderne Karossen sind so geformt, dass sie sich auf eine Weise verformen, die die Türen nicht blockiert, obwohl sie geschlossen bleiben
- Ein Frontalaufprall schiebt den Motor in den Fahrgastraum. Bei modernen Fahrzeugen ist die Motoraufhängung so beschaffen, dass er Beim Unfall nach unten wegbricht und das Chassis im schlimmsten Fall darüber hinweg schlittert, statt von ihm durchschlagen zu werden
- Die Pedale werden beim Unfall nach oben gedrückt, statt nach vorne weg zu klappen oder zu brechen und klemmen die Füße des Fahrers ein
- Die starre Lenksäule wird beim Frontalaufprall gegen Kopf und Brustkorb des Fahrers gedrückt
- Der Stern ist starr auf dem Kühlergrill montiert und stellt ein massives Verletzungsrisiko dar
- Nicht alle Modelle dieses Fahrzeugs hatten ausschließlich Scheiben aus Sekuritglas. Beim Unfall konnten die Seitenscheiben und die Heckscheibe splittern
Trotz dessen hat sich garantiert die überwältigende Mehrzahl der Menschen in diesem Auto in keiner Weise mehr gefährdet gefühlt, als in jedem anderen. Mehr noch – gerade weil der /8 so stabil ist, strahlt er ein Gefühl von Sicherheit aus. Auch heute noch. Aus dem Bauch raus würde ich behaupten, dass die Mehrzahl der Leute denkt, dass diese Autos bei einem Unfall mehr Schutz für die Fahrgäste bieten, obwohl sie was passive und aktive Sicherheitssysteme angeht mittlerweile hoffnungslos veraltet sind. Obwohl die Unfallzahlen heute kaum niedriger sind, als sie damals waren (Was bei der deutlich gestiegenen Anzahl Fahrzeuge eine deutlich kleinere Rate bedeutet), sterben heute im vereinigten Deutschland 3.000 Personen pro Jahr im Straßenverkehr, verglichen mit bis zu 11.000 pro Jahr in der alten Bundesrepublik. Da Todesfälle üblicherweise die Spitze des Eisbergs sind kann man davon ausgehen, dass schwere Verletzungen vergleichsweise noch seltener geworden sind.
All die Risiken, die den /8 kennzeichnen, wurden bei seinem Nachfolger behoben: Der W123 war als erster Mercedes mit der Sicherheitszelle für die Fahrgäste, umgeben von großen Knautschzonen ausgestattet. Er hatte allseitig Sekuritglasscheiben, serienmäßig Sicherheitsgurte, in Crashtests optimierte Karaosse, Lenksäule und Motoraufhängung, sowie vieles mehr.
Aus unserer heutigen Sicht scheinen die beiden Typen sich sehr ähnlich, aber tatsächlich liegen zwischen ihnen Welten. Unter Unfallbedingungen, in denen die Fahrgäste eines W115 mit großer Wahrscheinlichkeit schwer verletzt oder getötet würden, hätten sie im W123 ungleich bessere Chancen. Die äußerliche Ähnlichkeit verschleiert den gewaltigen Sprung, den die Sicherheitstechnik gemacht hatte.
Aber Autos sind nur eine Sache bei denen unsere Intuition leicht fehl geht. In 2016 wurde an der TH Köln die Studie Todsicher – Die Wahrnehmung und Fehlwahrnehmung von Alltagsrisiken in der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Studie bestätigt das seit vielen Jahren bekannte Phänomen, dass Menschen keine gute intuitive Vorstellung von Risiken haben und dazu neigen, bestimmte Risiken unter- oder überzubewerten. So wird typischerweise das Risiko Opfer eines Gewaltverbrechens zu werden oder einen tödlichen Unfall im Straßenverkehr zu erleiden überschätzt, während das Risiko für Wohnungsbrand, Leitungswasserschaden oder zivile wie strafrechtliche Rechtsstreitigkeiten deutlich unterschätzt wird.
Risiko ist schwierig einzuschätzen.
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