Die Frage nach Schadensausmaß und Schadenseintritts-Wahrscheinlichkeit, auf der das ganze Risikomanagement fußt, kann man auch anders formulieren: Was kann schlimmstenfalls wie oft passieren?
Wenn öffentlich über die Gefährlichkeit einer Sache gesprochen wird, dann wird oft nur ein Teilaspekt der Frage berührt, was daran liegt, dass das öffentlich gesprochene Wort normalerweise nicht einfach so, sondern mit einem Hintergedanken, gesagt wird. Wer zum Beispiel Menschen Angst machen will, lässt die Schadenseintritts-Wahrscheinlichkeit weg und malt den Schaden in besonders bunten Farben. Oder das Pferd wird von der anderen Seite aufgezäumt, der Schaden gar nicht besprochen und mit viel Emphase geschildert, wie häufig das schlimme Ereignis eintritt. Eine solche Debattierweise ist unredlich, aber beliebt, weil sie im Geben und Nehmen einer öffentlichen Diskussion argumentativ nicht einfach angreifbar ist. Da mir aber glücklicherweise auf meinem eigenen Medium für alle praktischen Belange unbegrenzt Zeit und Raum zur Verfügung stehen, kann ich die Frage, warum beide Aspekte für das Risikomanagement so wichtig sind und wie man sie quantitativ ausdrücken kann, etwas ausführlicher besprechen.
Die Schadenseintritts-Wahrscheinlichkeit
Die Häufigkeit eines Schadensereignisses kann man nur abschätzen wenn man weiss, wie häufig ein Ereignis eintreten kann, das potentiell zum Schaden führen kann. Die wichtigste Frage ist: “Ist ein Schadensereignis eine Folge eines außergewöhnlichen Ereignisses oder birgt der normale Betriebsablauf schon ein großes Schadenspotential?”. Je nachdem muss das Schutzsystem darauf ausgelegt sein seltene Ereignisse bzw. häufige Ereignisse zu beherrschen – man nennt das niedrige Anforderungsrate bzw. hohe Anforderungsrate. Was bedeutet das:
Schadensereignisse, die selten eintreten können treten im normalen Betriebsablauf nicht auf. Es sind Sondersituationen, auf die das Schutzsystem angemessen reagieren muss. Ein einfaches Beispiel dafür ist das Auto: Unfälle im Straßenverkehr passieren wegen der Vielzahl der Autos zwar dauernd, aber für das einzelne Auto vergehen in der Regel viele Jahre, bis es ein mal kracht. Folgerichtiger Weise ist z.B. der Airbag ein Schutzsystem für niedrige Anforderungsrate: Er bleibt jahrelang unangetastet, muss aber im richtigen Moment einwandfrei funktionieren, um Verletzungen vorzubeugen.
Schadensereignisse, die häufig eintreten können gehören zum normalen Betriebsablauf. Es sind keine Sonder-, sondern Normalsituationen, denen ein gewisses Schadenspotential innewohnt. Das wären zum Beispiel die Bremsen im Auto. Die müssen ständig funktionieren und werden dauernd gebraucht – in jedem Auto, bei jeder Fahrt. Sie sind also ausgelegt auf eine hohe Anforderungsrate.
In der Industrie findet man die Unterscheidung häufig, wenn zwischen Anlagensicherheit und Maschinensicherheit unterschieden wird. Die Sicherheit einer Produktionsanlage wird durch Sicherheitssysteme gewährleistet, die Abweichungen vom normalen Betriebszustand rechtzeitig erkennen und entsprechend eingreifen, im Notfall die Anlage automatisch in einen sicheren Zustand fahren. Ein typisches Beispiel ist der Druck in einem Reaktionskessel, der überwacht und bei Überschreiten eines kritischen Wertes durch technische Maßnahmen entspannt bzw. begrenzt wird. Gemessen wird der Druck zwar kontinuierlich, die Maßnahmen werden aber nur im Anforderungsfall ergriffen.
Viele Maschinen haben dagegen ständig wirksame Sicherheitseinrichtungen, die im Normalbetrieb aktiv sind und die Maschine sofort ausschalten. Eine Mechanische Presse könnte z.B. mit einem Schutzgitter ausgerüstet sein, das vom Bediener heruntergelassen werden muss (rückgemeldet durch Kontakte), bevor die Presse arbeiten kann. Oder ein Anlagenteil darf nicht in Betrieb sein, solange sich Menschen darin aufhalten, was durch ein Schlüsseltransfersystem sichergestellt werden kann. Das sind Beispiele für Sicherheitseinrichtungen, die kontinuierlich angefordert werden.
Die Schadenseintritts-Wahrscheinlichkeit wird in Ereignissen pro Zeiteinheit angegeben und je nachdem, ob hohe oder niedrige Anforderungsrate anliegt, geht in ihre Abschätzung die Zeit in Jahren oder Stunden ein. Ohne weitere Maßnahmen zur Risikominimierung, um die es in späteren Artikeln gehen wird, entspräche die Schadenseintritts-Wahrscheinlichkeit der Schadenseintritts-Rate, also der Anzahl tatsächlicher Schadensereignisse pro Zeiteinheit. So wird sie im ersten Schritt der Risikobetrachtung auch angegeben. Im Gedankenexperiment und mit Blick auf die Erfahrung versucht man abzuschätzen, wie oft ein bestimmtes Ereignis eintreten kann und teilt es entsprechend in Klassen ein.
In dieser Form werden wird die Schadenseintritts-Wahrscheinlichkeit im Fall niedriger Anforderungsrate in die Risikomatrix eingetragen.
- Ist schon mehrmals passiert 1-10 Jahre
- Ist schon ein Mal passiert 10-100 Jahre
- nie vorgekommen, aber vorstellbar 100-1.000 Jahre
- vernüftigerweise auszuschließen 10.000 Jahre
Im Fall hoher Anforderungsraten sehen die rohen Schadenseintritts-Wahrscheinlichkeiten ein bisschen seltsam aus, weil die Zahlenwerte so klein sind. Man rechnet deswegen nicht direkt damit, sondern benutzt nur zwei Klassen: Häufig und Selten. Häufig wäre die Bedienung der Presse, selten das Betreten des gesperrten Anlagenteils.
Für hohe Anforderungsraten kommt noch eine weitere Dimension ins Spiel: Die Vermeidbarkeit. Kann der Bediener durch sein Verhalten realistischerweise die Gefahr vermeiden? Vielleicht bewegt sich die Presse nur sehr langsam und macht durch Drehspiegelleuchte und Signalton auf sich aufmerksam. Dann könnte man annehmen, dass sich der Kollege, der daran arbeitet wenn sonst alles in Ordnung ist, rechtzeitig aus dem Gefahrenbereich entfernen kann. Das macht dann zwar das Schutzgitter nicht unnötig, aber vielleicht muss man dann nur noch einen Endlagenschalter einbauen, wo man aus Gründen der Redundanz sonst zwei gebraucht hätte, um dasselbe Schutzniveau zu erreichen. Für den abgesperrten Anlagenteil mit dem Schlüsseltransfersystem gilt die Vermeidbarkeit möglicherweise nicht: Vielleicht wird dort im Betrieb mit Gasen gearbeitet. Man muss nicht mal Giftgas annehmen – Stickstoff reicht. Auch wenn jeder von uns im Normalbetrieb mit 78 % Stickstoff im Atemgas gut leben kann, solange genug Sauerstoff vorhanden ist, wird die sprichwörtliche Luft bei höheren Konzentrationen schon ziemlich dünn. Und weil Stickstoff ein innertes Gas ist, merken wir gar nicht, wie wir langsam einschlafen – Stickstoff ist der der sanfte Tod. Deswegen muss das Schlüsseltransfersystem gegebenenfalls noch durch eine weitere Sicherheitseinrichtung ergänzt werden, z.B. eine Verriegelung, die die Fluchttür offen hält, solange jemand in der Anlage ist.
Mit der Angabe hoher oder niedriger Rate, mit der ein Schadensereignis stattfinden kann und der Vermeidbarkeit durch den Bediener können wir die Schadenseintritts-Wahrscheinlichkeit abschätzen und haben damit schon einige notwendige Angaben zur Aufstellung des Risikographen bestimmt.
Das Schadensausmaß
Das Schadensausmaß teilt man genau wie das Schadensausmaß und aus den gleichen Gründen in Klassen ein, z.B. in
- vernachlässigbar
- klein
- groß
- katastrophal
Für die Quantifizierung des Schadensausmaßes bieten sich zwei Maßstäbe an, nämlich Geldeinheiten und menschliches Leid. Keiner davon ist eindeutig und beide hängen von vielen Faktoren ab.
Wirtschaftlicher Schaden wird letzten Endes immer gusgedrückt durch eine Summe Geldes, die verloren ist, wenn das Risiko sich realisiert: Da ist zunächst der direkte Schaden durch einen Unfall, also die Kosten für die Aufräumarbeiten, die eventuelle Neubeschaffung und Aufstellung beschädigter Maschinen, eventuelle Kompensationszahlungen und Aufwendungen für Reha-Maßnahmen, aber auch der Verlust durch Produktionsausfall, durch Strafzahlungen an den Staat und Konventionalstrafen an die Geschäftspartner. Mit jedem Unfall kommt auch ein schwer einzupreisender Ansehensverlust, sowohl in der Geschäftswelt als auch bei Privatleuten. Würden sich Unfälle, wie der vom 17. Oktober 2016 häufiger ereignen, ist meine Vermutung, würde der eine oder andere treue Kunde z.B. zukünftig am Glysantin vorbeigreifen, wenn er Kühlerfrostschutzmittel kauft. Und das schlechte Licht, das auf das Unternehmen geworfen würde, könnte auch Großkunden abschrecken. Nichts davon können sich Unternehmen auf Dauer leisten und haben schon deswegen ein Interesse an sicheren Anlagen.
Bophal war der letzte katastrophale Unfall vor dem Internet und der flächendeckenden weltweiten Echtzeitberichterstattung. Der Unfall hat hierzulande weit weniger Grund aufgewühlt als der viel weniger schwere (und immer noch viel zu schlimme) Unfall in Seveso, weil er sich am anderen Ende der Welt abspielte. Das andere Ende der Welt gibt es aber heute nicht mehr. Der Unfall im Kernkraftwerk Fukushima Daiichi wurde live in alle Welt übertragen und konnte im Internet und auf dem Smartphone praktisch hautnah miterlebt werden. Die sprichwörtliche ganze Welt war dabei. Nicht nur die deutsche Presse, auch z.B. die New York Times und der Guardian waren damals voll von Artikeln, über soziale Netzwerke verbreitete sich jedes neue Video in Windeseile. Die Industrie steht heute – ob zu Recht oder Unrecht steht in einem anderen Buch und mag ein andermal erörtert werden – deutlich mehr im Rampenlicht als noch vor drei Jahrzehnten. Zurzeit wunderbar zu sehen an den diversen Abgasskandalen. Ich bin sehr skeptisch, ob die schwer schätzbaren zusätzlichen Gewinne aufgrund der Manipulationen den wirtschaftlichen Schaden durch Strafen und das ramponierte, um nicht zu sagen, in Scherben liegende Image der deutschen Autoindustrie, aufwiegen. Wie das Management einiger der größten und erfolgreichsten Konzerne, die es jemals gab, ein derartiges Risiko eingehen konnte, ist mir schleierhaft.
An dieser Stelle kommt jetzt ein wichtiger Satz: Sicherheitsgerichtete Technik dient nur sekundär dem Schutz vor wirtschaftlichem Schaden. Denn wirtschaftlicher Schaden hat für die Betrachtung einen eklatanten Nachteil: Er ist verhandelbar. So fallen 10 € mehr, die ich im Jahr habe oder nicht habe niemandem auf. Bei 100 € werde ich hellhörig. 1.000 € tun weh. 10.000 € stellen mich vor ernsthafte Probleme und 100.000 € wären eine Katastrophe. Das gilt aber nur für mich als Privatmensch – wie steht es bei einem Unternehmen? Wie viele Nullen kann Hella anhängen, bis der Schaden wirklich weh tut? Wie viele Bosch? Wie viele VW? Wie viel davon kann durch Versicherungen, etc. substituiert werden? Wie viel Gewinn haben sie im Vergleich zum Schaden erwirtschafttet? Dazu kommt die persönliche Ebene. Angenommen ich bin Manager: Wie viel erwritschaftetes Geld kann ich mir selbst zuschreiben? Wie groß wird mein Bonus sein? Wie groß kann der Schaden höchstens werden? Bin ich überhaupt noch da, wenn er sich realisiert? Und wie viel davon kann man mit mir in Verbindung bringen? Sich in einer solchen Situation schadlos zu halten, besoders, wenn man sowieso außer Landes ist, fällt den Verantwortlichen erfahrungsgemäß nicht schwer. Weil Entscheidungen in Unternehmen selten von Einzelpersonen getroffen werden, kann sich jeder immer darauf zurückziehen, dass wir dieses oder jenes beschlossen haben und nicht ich. Ähnlich einem Peloton, bei dem immer eine Platzpatrone im Spiel ist. Wer weiss schon, in welchem Gewehr sie steckt? Hinterher kann jeder sich einreden, dass er nicht Schuld am Tod des Deliquenten sei.
Und darin liegt eine große Gefahr für Moral-Hazard-Verhalten, also der unbekümmerten Rücksichtslosigkeit oder Verantwortungslosigkeit. In jeder hierarchischen Organisation, also auch in jedem Unternehmen, finden sich unter anderem zwei für Menschen typische Verhaltensweisen: Zunächst gibt keiner sein eigenes Geld aus und wenn das Unternehmen groß genug ist, fällt die Verschwendung im Kleinen lange gar nicht auf. Und wenn doch, dann rettet uns der Effekt der Diffusion von Verantwortung[1], der in einfachen Worten dafür sorgt, dass wir uns umso weniger Schuld bewusst sind, je größer der Personenkreis ist, der davon wusste.
Weil wirtschaftlicher Schaden zwar intuitiv einfach erfassbar scheint, bei näherer Betrachtung aber keine besonders zuverlässige Einschätzung des Schadenspotentials erlaubt, rotiert das ganze Risikomanagement im Wesentlichen um die Frage, welches menschliche Leid durch einen Unfall angerichtet werden kann, denn menschliches Leid ist nicht verhandelbar. Diese Erkenntniss setzt sich langsam auch wirklich durch. Dass höhere Manager, die üblicherweise nicht Karriere gemacht haben, indem sie Bonbons verteilen, das Wohl von Menschen bestenfalls tangieren mag und auch unter den Sachbearbeitern noch viel zu viele davon nicht wesentlich berührt werden – beides immer wieder eindrucksvoll in aller Welt dokumentiert – will ich gar nicht bestreiten. Aber zumindest unter den Menschen, die sich mit sicherheitsgerichteter Technik und Risikomanagement beschäftigen gibt es einen einigermaßen breiten Konsenz: Der Schutz des Lebens und der Gesundheit der Menschen ist das primäre Ziel.
Menschliches Leid lässt sich ganz grob in drei Kategorieren einteilen:
- Reversible Verletzungen, seien sie nun physischer oder psychischer Natur, können nach dem Unfall vollständig verheilen und bedrohen das Leben nicht akut. Von Narben auf der Haut und auf der Seele abgesehen. Das sind zum Beispiel Schnitte, Prellungen, Schürfwunden.
- Irreversible Verletzungen hinterlassen eine Wunde, die nie mehr heilt. Der Verlust von Gliedmaßen oder Sinnesorganen, schwere internistische oder neurologische Schäden, seelische Traumata die nie ganz überwunden werden fallen in diese Kategorie.
- Tod. Unter Umständen unterteilt nach dem Potential für einen oder für mehrere Tote. Die ISO 13849, Mutternorm des Maschinenschutzes kennt die Unterscheidung nicht. Die IEC 61508, Mutternorm für die Anlagensicherheit unterscheidet.
Wem wird gerade etwas flau im Magen? Glückwunsch, das ist die passende Reaktion. In der Tat wäre es seltsam, wenn der Gedanke an abgerissene Gliedmaßen und zerstörtes Augenlicht im Zusammenhang mit einem schweren Unfall so ganz spurlos an einem vorüber ginge. Die Integrität und Unversehrtheit des eigenen Körpers ist für die meisten Menschen ein hohes Gut und wer nur ein bisschen Empathie besitzt, wird mit der Transferleistung, in dieser Hinsicht von sich auf andere zu schließen keine Probleme haben.
Jetzt kommt wieder die Einteilung in Klassen von oben ins Spiel: das Schadensausmaß wird in Klassen eingeteilt, um es überhaupt quantifizierbar zu machen:
- vernachlässigbar (keine oder nur oberflächliche, leichte reversible Verletzungen)
- klein (reversible Verletzungen)
- groß (irreversible Verletzungen)
- katastrophal (Tod)
Und das sind dann am Ende die Schadensklassen, die in die Risikomatrix eingetragen bzw. in zusammengefasster Form – analog zur Schadenseintritts-Wahrscheinlichkeit kennen Schutzsysteme für hohe Anforderungsrate nur die Unterscheidung zwischen leichten und schweren Verletzungen bzw. Tod – zur Bildung des Risikographen herangezogen werden.
Fazit
Schadensausmaß und Schadenseintritts-Wahrscheinlichkeit wurden schon im ersten Artikel dieser Serie erwähnt, aber weil sie so wichtig für das Risikomanagement sind, wollte ich sie etwas ausführlicher besprechen. Ich hoffe, dass die wichtigsten Punkte klar wurden. Mir ist wichtig, dass man die Risikodefinition im Sinne des Maschinen- und Anlagenschutzes versteht. Auch wenn jetzt noch nicht ganz klar ist, wie man mit diesen Angaben Risikomatrix bzw. Risikograph erstellt und was diese beiden Hilfsmittel dann konkret aussagen, wird sich der Nebel sehr bald lichten. Wir müssen im Folgenden nur noch über Risikoszenarien und ihre Bedeutung für das Riskomanagement sprechen, bevor uns in Teil 6 der Risikoreduktion und dazu notwendigen Maßnahmen widmen können.
[1]Auch als Bystander-Effekt bekannt. Mit der Theorie der Dissipation der Verantwortung wird z.B. auch beschrieben, warum in Notfall-Situationen in der Öffentlichkeit umso weniger getan wird, umso mehr Menschen dabei stehen. Hochinteressant, wenn man sich näher damit beschäftigt.
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