Fast unvorstellbar ist in der Welt der Wissenschaft, was in der Kunst selbstverständlich ist: dass Leute, die selbst nie eine anerkannte Leistung vollbracht haben, die Produkte der Kreativen beurteilen und kritisieren. Bei einem Kunstkritiker, der ein Bild analysiert, erwartet niemand, dass er selbst in der Lage wäre, ein solches zu malen, niemand würde von Marcel Reich-Ranicki verlangen, dass der zuerst selbst einen großen Roman zu schreiben hätte, bevor er sich, zumal öffentlich, wertend zu den großen Erzählungen von Martin Walser und Günther Grass äußern dürfte.
Es sind – umgekehrt – nur wenige Fälle bekannt, in denen ein Künstler sich wertend über die Arbeit eines anderen geäußert hätte. Dass ein Maler dem anderen vorgeworfen hätte, dessen Werke genügten nicht dem Anspruch, den man an Kunst zu stellen hätte, wird selten berichtet. Wissenschaftler sind da anders: In der wissenschaftlichen Diskussion wird man schon mal schnell polemisch, und der Vorwurf, das, was ein anderer da vollbracht hat, wäre nun wirklich nicht als wissenschaftliches Resultat akzeptabel, ist weder weit noch selten.
Vielleicht ist es die Tatsache, dass Wissenschaftler sich fortwährend gegenseitig kritisieren, die dazu führt, dass sie gegen Kritik von Außen allergisch sind. Aber eine Frage, deren Beantwortung doch die Voraussetzung für die Beurteilung der Kollegen ist, können die Wissenschaftler selbst in dieser Diskussion nicht beantworten: Was ist Wissenschaft? Diese Unmöglichkeit folgt aus der Innenperspektive des betroffenen: Natürlich wird jeder Forscher den Begriff der Wissenschaft so auffassen, dass das eigene Arbeiten unbedingt darin enthalten ist. Diese Sicht wird es den Diskutanten unmöglich machen, ein gemeinsames Bild von dem zu erhalten, was als wissenschaftliches Arbeiten oder als wissenschaftlich gerechtfertigtes Ergebnis zu akzeptieren ist.
Der Kritiker in der Kunstwelt hat die notwendige Außenperspektive wenigstens, und so gibt es auch eine Vielzahl von Vorschlägen, den Begriff der Kunst zu erfassen, ein besonders interessanter Vorschlag findet sich bei Nelson Goodman in seinem Aufsatz „Wann ist Kunst?” (abgedruckt in „Weisen der Welterzeugung”, Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, 2001). Nelson Goodman meint, da es so viele unterschiedliche Vorschläge zum Begriff der Kunst gibt, ist die Frage vielleicht falsch gestellt: Nicht was Kunst ist, sollte man fragen, sondern wann.
Die Frage nach dem Wann ist dabei doppeldeutig: Einerseits können wir fragen, was passiert, was Leute tun, wenn wir ihr Schaffen als Kunst ansehen: Nicht die Ergebnisse wären zu beschreiben, sondern die Handlungen der Künstler. Andererseits, und das hängt in gewisser Weise mit der ersten Frage zusammen, ist es möglich, dass ein Kunstwerk zu einem Zeitpunkt als Kunst betrachtet wird, zu einem anderen nicht. Wann ist ein Objekt ein Kunstwerk, und wann nicht?
Wann ist ein Dokument (ein Artikel, eine Abhandlung, ein „Paper”) ein wissenschaftliches Werk? Für die Kunst gibt es einen Vorschlag: von Danto der meint, ein Objekt sei Kunst, wenn es im Museum steht. Der Kunstbetrieb (eben jene Kaste von Kritikern) entscheidet, dass etwas Kunst ist, und die Gesellschaft muss das akzeptieren. Unter Wissenschaftlern herrscht eine ganz ähnliche Vorstellung: Wissenschaft ist etwas in dem Moment, in dem es in anerkannten Zeitschriften abgedruckt wird.
Diese Idee ist jedoch für die Wissenschaft noch weniger befriedigend als für die Kunst. Der Grund ist oben bereits genannt: während die Kuratoren der Museen und Ausstellungen keine Künstler sind, werden an den Entscheidungen der Wissenschafts-Journale selbst wieder nur Wissenschaftler beteiligt. Radikale Ideen- und Methodenwechsel sind auf diese Weise kaum möglich, um mit Kuhn zu sprechen, wird eine solche Auffassung dem „Normalbetrieb” einer Wissenschaft gerecht, aber nicht den Zeiten, in denen „wissenschaftliche Revolutionen” stattfinden. Und wenn man die Auffassung nicht völlig abwegig findet, dass sich die meisten Wissenschaften heute in einer „permanenten Revolution” befinden, dass es eigentlich gar keine Zeiten des „Normalbetriebs” gibt, dann wird man schnell zu dem Ergebnis kommen, dass es vielleicht viel Wissenschaft gibt, die nicht in nature, Science und den anderen „Journals of” steht, und die diesen Namen trotzdem verdient.
Aber vielleicht hilft die Idee des Museums, in dem Kuratoren entscheiden, was Kunst ist, doch weiter. Einerseits: Ein Maler, der nur fürs eigene Wohnzimmer malt, und seine Gemälde nie der gesellschaftlich anerkannten Kritik aussetzt, der schafft im gewissen Sinne auch keine Kunst – Kunst ist ein Objekt eben dann, wenn es von anderen als solche akzeptiert wird – letztlich also, wenn es im Museum steht. Ein Maler, der meint, dass er Kunst schafft, wird um die Anerkennung „da draußen” ringen, er wird zur Not eigene Wege zur Öffentlichkeit suchen und wird sich auf die regeln zur Anerkennung seiner Werke einlassen müssen.
Ebenso der Wissenschaftler: Solange er die bessere Quantentheorie nur im Schrank hat, ist sie noch keine Wissenschaft. Und wenn sie von keinem anerkannten Journal publiziert wird, muss er sich eine andere Öffentlichkeit suchen, um seine Ideen vorzubringen.
Der Künstler, das steht außer Frage, hat es grundsätzlich leichter, weil die Kunstwelt eben nicht von Künstlern überwacht wird. Es ist eben weitgehend anerkannt, dass Wissenschaftler entscheiden, was Wissenschaft ist, und da wird schnell einmal eine ungewöhnliche Idee, ein überraschender Ansatz als Spinnerei abgetan.
In den Kuratorien der großen Museen und Ausstellungen arbeiten Kritiker und Künstler zusammen. Wenn die einen etwas ablehnen, was die anderen befürworten, muss der kritische Kopf dem begeisterten seine Ablehnung plausibel machen. Auf diesem Wege wird entschieden, was – wenigstens vorläufig – als Kunst zu gelten hat.
Vielleicht tut sich hier eine ganz neue Rolle für den Wissenschaftsjournalismus auf: Die Ideen aufzuspüren, die der Wissenschaftsbetrieb ablehnt, und recherchieren, wie plausibel die Argumente der Etablierten sind. Das gibt sicher spannende Geschichten fürs Publikum und frischen Wind für die Institutionen.
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