Die Frage, ob die nicht direkt beobachtbaren Entitäten der wissenschftlichen Theorien wirklich existieren, und ob man, um Wissenschaft treiben zu können, einen Realismus bezüglich wissenschftlicher Entitäten annehmen muss, wird zumeist an Theorien über Entitäten diskutiert, deren direkte Beobachtbarkeit wegen ihrer Kleinheit ausgeschlossen ist. Es gibt jedoch auch Entitäten in Theorien, bei denen andere Gründe gegen ihre unmittelbare Beobachtbarkeit sprechen.
Wetterfronten, die in meteorologischen Theorien benötigt werden, um die Entwicklung atmosphärischer Phänomene zu erklären, gehören dazu. Sie und die Theorien, in denen sie eine Rolle spielen, haben eine interessante Geschichte.
Für die Beschreibung bestimmter Wetterphänomene wurde in den 1920er Jahren das Bild der atmosphärischen Fronten geprägt. Dass es bestimmte ähnlich wiederkehrende Abläufe im Wettergeschehen gibt, wie z.B. den über Stunden zu beobachtenden Aufzug hoher Schichtwolken, die sich immer mehr verdichten und immer mächtiger werden, bis zuerst ein feiner Nieselregen und später ein lang anhaltender Dauerregen einsetzt,
sich auftürmende Haufenwolken, aus denen starker Schauer-Niederschlag fällt, verbun-den mit starkem Wind und einer nachfolgenden Abkühlung.
Genauere Beobachtungen zeigten dann, dass diese Phänomene mit charakteristischen zeitlichen Änderungen der Windrichtung und des Luftdruckes verbunden sind.
Der räumliche Charakter dieser Phänomene wurde jedoch erst sichtbar, als man begann, Wettermeldungen verschiedener Orte aber eines definierten Zeitpunktes in eine Karte einzutragen. Vorraussetzung dafür war ein hinreichend dichtes Netz meteorologischer Stationen und die Möglichkeit, die Angaben über gemessene und beobachtete meteorologische Größen zügig telegrafisch an eine Zentrale zu melden.
Von diesem Moment an war es möglich, meteorologische Phänomene zu beobachten, die nicht nur einen charakteristischen zeitlichen Verlauf an einem Ort haben, sondern auch wiederkehrende, benennbare, abgrenzbare und identifizierbare räumliche Strukturen aufweisen.
Man kann sich auch vorstellen, dass einem Astronauten, der über keinerlei Wissen über meteorologische Theorien verfügt, und der auf seiner Umlaufbahn immer wieder auf die Erde hinab sieht, ziemlich schnell charakteristische Formationen (Bänder oder netzartige Strukturen) von Wolken auffallen. Interessant ist an dieser Vorstellung, dass der Astronaut vermutlich zunächst überhaupt keine Verbindung zwischen seinen Erfahrungen der Wetterentwicklung an der Erdoberfläche und seinen kosmischen Beobachtungen herstellen wird. Aus der Nähe wird er die Front nie beobachten oder erfahren können, dort gibt es nur Wind, Regen und Temperaturveränderungen und es ist äußerst un-wahrscheinlich, dass er auf diese Weise auf die Idee käme, das beobachtete Phänomen als Front zu beschreiben. Beobachtet er dieses Phänomen aber aus sicherer Entfernung (sei es im Büro der Wetterzentrale oder aus dem Fenster seines Raumschiffs) wird das Phänomen als raum-zeitliche charakteristische Struktur zu erkennen sein, die der Beobachter (wenn man eine militärische Vorbildung voraussetzt) als Front charakterisieren kann.
Die meteorologische Front ist bis hierher eine rein empirische Entität, sie wird zu einer wissenschaftlichen Entität, wenn Meteorologen das Entstehen, die Entwicklung, das Verhalten dieser Gebilde unter verschiedenen Bedingungen systematisch untersuchen und klassifizieren. Dies geschah zuerst in den 1920er Jahren. Zehn bis zwanzig Jahre später entstanden die ersten Fronten-Theorien. Es ist wissenschaftssoziologisch vielleicht interessant, dass diese Zeit in Europa eine Zeit der Spannungen und Kriege zwischen den Nationen war. In dieser Zeit entstand in der Meteorologie auch die Vorstellung von unterschiedlichen, aber in sich (hinsichtlich Temperaturen, Luftfeuchtigkeit und anderem) homogenen Luftmassen, die an ihren Grenzen aufeinanderprallen. An diesen Grenzen, so wurde die Theorie entwickelt, entstehen durch kleine Störungen Kalt- und Warmfronten, die sich auf charakteristische Weise entwickeln und bewegen, bevor sie sich wieder auflösen. Diese theoretischen Überlegungen der Frontendynamik wurden durch physikalische Argumentationen aus der Thermo- und Hydrodynamik der Gase unterstützt.
An dieser Stelle ist aus der empirischen Entität „atmosphärische Front” eine theoreti-sche Entität geworden.
Interessanterweise wurde in der Meteorologie nun jahrzehntelang folgendermaßen verfahren: aus den beobachteten Wetterphänomenen wurden (zunächst nur durch Eintra-gung von Wettermeldungen in Wetterkarten und deren synoptischer Analyse, später unter Zuhilfenahme von Satellitenbildern und Radarmessungen) Frontensysteme, wie sie aus der Theorie erwartet wurden (hier handelte es sich dann tatsächlich um theorie-beladene Beobachtung) identifiziert. Deren weitere Entwicklung wurde unter Verwen-dung der Theorie vorhergesagt und daraus wiederum eine Prognose des Verlaufes der an einem Ort tatsächlich beobachtbaren Wettererscheinungen abgeleitet.
Bis zu dieser Stelle wäre man vielleicht geneigt zu sagen, dass die empirische Entität „Kaltfront” identisch ist mit der theoretischen Entität „Kaltfront” und dass diese Front auch wirklich existiert. Die Geschichte der atmosphärischen Fronten, soweit sie wissenschaftstheoretisch interessant ist, ist aber damit noch nicht zu Ende.
Inzwischen haben die Wissenschaftler, die sich mit der Atmosphäre beschäftigen, bekanntlich neue Theorien erdacht. Genau genommen sind diese Theorien nicht neu, sie sind ein Teil der seit über 100 Jahren bekannten Thermo- und Hydrodynamik. Es ist seit langem klar, dass man die Erdatmosphäre grundsätzlich mit einem System partiellen Differentialgleichungen beschreiben kann, die die Dynamik und den Temperaturverlauf sowie den Zustandsübergang von Wasser vom gasförmigen in den flüssigen Zustand beschreiben. Das Interesse an diesem grundsätzlich vorhandenen Wissen wuchs aber bei den Theoretikern erst in dem Moment, als in den 1950er Jahren Großrechner zur Verfügung standen, mit denen man komplizierte mathematische Gleichungssysteme in vertretbarer Zeit lösen konnte.
Was die Meteorologen zusätzlich zur physikalischen Theorie benötigten, war die rein mathematische Theorie der Umwandlung der Differentialgleichungen in Differenzengleichungen, die unter anderem die Frage beantworten musste, unter welchen Um-ständen und mit welcher Genauigkeit die Lösung einer Differenzengleichung der einer Differentialgleichung entspricht und welches Verhältnis der Größe einer Zeitdifferenz zu der der Raumdifferenz eine optimale und stabile Lösung ergibt.
Außerdem waren eine große Zahl von Theorien über die Berücksichtigung von weiteren Wechselwirkungen (z.B. das Reflexionsvermögen der Erdoberfläche, der Übergang von Wasser, anderen Stoffen und Wärme zwischen Atmosphäre und Ozeanen oder Erdoberfläche) sowie über die angemessene Übertragung von tatsächlichen meteorologischen Messwerten in das Computermodell nötig, bevor es möglich war, dass diese Modelle die Entwicklung des Zustandes der Erdatmosphäre schneller vorhersagten als diese sich tatsächlich veränderte.
Was jedoch nicht benötigt wurde, war irgendeine Theorie oder auch nur eine Vorstellung von Luftmassen oder Fronten in der Atmosphäre. Die numerische Wettervorhersage kommt völlig ohne Frontentheorie aus. Innerhalb der Theorien, die hier benötigt werden, gibt es nur kontinuierliche Verteilungen physikalischer Größen, die auf Gitternetzmodelle abgebildet werden.
Wenn es aber zwei wissenschaftliche Theorien gibt, die in ihrer empirischen Überprüfbarkeit und praktischen Anwendung vergleichbare Resultate (hier die Verteilung der gleichen messbaren physikalischen Größen) liefern, wobei die eine Theorie Entitäten enthält, die in der anderen völlig unbekannt sind, was kann dann über die Existenz dieser Entitäten gesagt werden?
Wir könnten versuchen, die Existenz der Fronten zu retten, indem wir uns an den Astronauten erinnern, der aus dem Fenster seines Raumschiffs die atmosphärischen Gebil-de beobachtet und immer die gleichen Formen wieder erkennt. Vielleicht wird dieser Astronaut sich aber auch, auf die Erde zurückgekehrt, davon überzeugen lassen, dass die von ihm gesichteten Phänomene nur so aussahen, als ob sie immer wieder Exempla-re einer gleichen Gattung waren. Vielleicht wird der tatsächlich unterschiedliche Wet-terverlauf, der sich auf der Erde abspielte, als er aus sicherer Entfernung immer wieder neue Fronten, die über einen Ort zogen, zu sehen glaubte, ihn auf den Gedanken kom-men lassen, dass die Ähnlichkeit wohl nur in seiner Wahrnehmung und Interpretation existierte.
Das Beispiel verweist in jedem Falle darauf, dass es offenbar sehr unterschiedliche Aspekte von Existenz und existieren gibt.
Zunächst sind da die mehr oder weniger unmittelbar beobachtbaren Phänomene, von denen man entweder sagen kann, dass sie als Exemplare bestimmter Gattungen existie-ren oder dass es so scheint, nur „so aussieht” als wenn die Phänomene zu solchen Gattungen gehören und damit als solche „existieren”.
Sodann sind die in systematischen empirischen Beobachtungen erkannten und klassifizierten empirischen Entitäten zu betrachten, deren „Existenz” wird durch anerkannte wissenschaftliche Verfahren festgestellt. Empirische Entitäten sind damit wissenschaftliche Entitäten, ebenso wie die als drittes zu betrachtenden theoretischen Entitäten, die Gegenstand wissenschaftlicher Theorien sind.
Das Beispiel der meteorologischen Phänomene hat vielleicht deutlich gemacht, wie in historischen Fällen aus unmittelbar beobachteten Phänomenen empirische und letztlich theoretische Entitäten gewonnen werden. Völlig offen ist aber noch, ob die Behauptung der Existenz dieser Entitäten in irgendeinem Sinne auf gleiche Weise gerechtfertigt werden kann oder ob diese Rechtfertigung möglicherweise aufgrund des Bezuges dieser Entitäten aufeinander erfolgen könnte.
Bevor die Existenz meteorologischer Entitäten jedoch vorschnell und ohne Klärung des Sinns der Behauptung ihrer Existenz aufgegeben wird, sollte man sich vergegenwärtigen, dass die Existenz von Hurrikans und Windhosen auf die gleiche Weise gerechtfertigt wird wie die von Kalt- und Warmfronten. Wenn wir von der Kaltfront, die heute in Deutschland für Abkühlung gesorgt hat, sagen, dass sie eigentlich nicht existiert, müssten wir das gleiche auch von „Kathrina” – jenem Wirbelsturm, der New Orleans verwüstete, behaupten.
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