Umso größer die Rolle einer Gemeinschaft und ihrer Methoden in der Gesellschaft ist. desto mehr Widerstand schlägt ihr entgegen, umso größer die offensichtlichen Erfolge, desto mehr Zweifler an der Nachhaltigkeit dieser Segnungen, desto mehr Mahner, die die Misserfolge und Fehlschläge in den Vordergrund rücken, und umso größer der Anspruch auf universelle Lösungskompetenz für alle Probleme der Gesellschaft, desto mehr Gegner werden auf den Plan gerufen.
Das gilt zumindest für demokratische Gesellschaften, in denen die Meinungsfreiheit als hohes Gut angesehen und verteidigt wird, und in der keiner Gruppe von Menschen schon auf Grund ihrer Ausbildung oder ihrer bisherigen Leistungen ein Vorrecht gegenüber anderen eingeräumt wird. Das ist vermutlich auch gut so: Kritik und Widerstand wird von den Besten Vertretern einer Gemeinschaft immer als Herausforderung zur Argumentation und zur Verbesserung der eigenen Methoden begriffen werden, sie wachsen an den Widerständen, die sich ihnen entgegenstellen.
In genau dieser Situation befindet sich die Wissenschaft. Aufgrund ihrer spektakulären Ergebnisse und aufgrund der Erfolge der mit den Wissenschaften verbundenen Ingenieursdisziplinen und der wissenschaftlich orientierten Medizin hat sie im Verlaufe des 20. Jahrhunderts eine große Rolle in allen Lebensbereichen bekommen. Aber mit den Erfolgsmeldungen haben auch die kritischen Stimmen zugenommen, die auf unerwartete Langzeit- und Nebenwirkungen von Technologien aufmerksam machen und die Fehlschläge und Irrtümer wissenschaftlicher Untersuchungen betonen.
Beispiel Technologie: Die Erfolge des wissenschaftlich fundierten Fahrzeugbaus haben seit Anfang des 20. Jahrhunderts zu einer ungeahnten Verbesserung der Mobilität der Menschen in Europa und Nordamerika, inzwischen auch in Asien und Lateinamerika geführt. In jeder Straße, jeder Schiene, jedem Auto, jeder Lokomotive und jedem Flugzeug steckt Technologie und wissenschaftliche Forschung. Von Anfang an war diese Entwicklung von Gegnerschaft begleitet. Lärm und Gestank verängstigten die Menschen. Die Anhänger der Industrialisierung und Motorisierung belächelten damals die irrationalen Ängste ihrer Gegner. Wir wissen heute jedoch, dass die Mobilität westlicher Prägung – würde sie sich gleichermaßen auf allen Kontinenten verbreiten, zu riesigen Umweltproblemen führen würde. Heute wäre eine weitere Motorisierung aller Gesellschaften nach europäisch-amerikanischem Vorbild irrational – kann man dann noch sagen, sie sei jemals rational gewesen?
Beispiel Medizin: Die medizinische Forschung, gestützt auf die Ergebnisse chemischer, biologischer, biochemischer und neurologischer Wissenschaft, hat in den letzten Jahrzehnten eine große Zahl von Erfolgen zu verzeichnen, die man in erhaltenem und verlängertem Leben messen kann, ein Ziel, das die Medizin seit der Antike verfolgt. Gleichzeitig stellen uns gerade diese Erfolge und Möglichkeiten vor ethische Fragen, für die uns die Medizin keine Antworten anbieten kann. Die Größe des medizinischen Erfolgs wird schnell relativiert, wenn das Leben zwar verlängert, aber nicht lebenswerter wird.
Das System der Wissenschaften hat in sich vielleicht selbst den Ausweg aus dieser Situation: Probleme, die durch Technologien hervorgerufen werden, sollen durch Technologien beseitigt werden: Das Kohlendioxid aus den Autos und Fabriken könnte vielleicht aus der Atmosphäre wieder herausgefiltert und unterirdisch gelagert werden, die Erde könnte durch künstliche Wolken über dem Ozean, die das Sonnenlicht reflektieren, abgekühlt werden. Technologiefolgenforschung ist das Zauberwort. Vielleicht geben wir bald mehr Geld für die Forschung zu Lösung von Problemen aus, die uns die Technologie geschaffen hat, als für das Finden neuer Technologien.
Die Kritiker werden davon nicht verstummen. Sie sehen die Wissenschaft in der Rolle des Zauberlehrlings, der die Geister, die er rief, nicht los wird, und empfehlen die Rückkehr zu vorwissenschaftlichen Zeiten, wenigstens aber die gleichberechtigte Berücksichtigung nicht-wissenschaftlicher Bereitstellung von Orientierungswissen.
Woher, so fragen sie, nehmen denn die Wissenschaften den Anspruch, bessere Handlungsorientierungen zu liefern als Kunst, Politik, Tradition und Religion? Was ist das Besondere an der wissenschaftlichen Methode, warum soll sie sich nicht, wie politische Parteien im Wahlkampf, einem Wettstreit vor dem mündigen Publikum aussetzen. Wie wird gerechtfertigt, dass eine wissenschaftliche Methode trotz aller Fehlschläge und ungelösten Probleme bessere Handlungsorientierung gibt als gesunder Menschenverstand, der sich auf Tradition und Überlieferung stützt, oder religiöser Glauben?
Wissenschaftsphilosophie hält diese Fragen für legitim. Das, was dem Wissenschaftler durch Ausbildung, Diskurs in der wissenschaftlichen Gemeinschaft und eigene Erfahrungen selbstverständlich ist, stellt sie infrage, um Antworten auf diese Fragen zu finden. Sie versucht, in der Vielfalt dessen, was wissenschaftliches Arbeiten genannt wird, das Gemeinsame, den Kern, aber auch die Differenzen zu finden. Sie will einerseits Wissenschaft in all ihren Fassetten in allgemeinen Kategorien beschreiben, Kriterien für das Attribut „wissenschaftlich” finden und das, was sich tatsächlich unter dem Namen Wissenschaft zeigt, kritisch auf diese Kategorien und Kriterien hin befragen.
Es liegt in der Natur eines solchen Fragens, dass dabei auch Grundsätze und Bewertungen kritisch betrachtet werden, die Wissenschaftlern bisher selbstverständlich waren. Wenn man versucht, verschiedene Sachverhalte, wie das Arbeiten von Wissenschaftlern unterschiedlicher Disziplinen, innerhalb eines Kategoriensystems konsistent zu beschreiben, um es gegen andere – nicht-wissenschaftliche – Methoden abzugrenzen, kann es vorkommen, dass diese Abgrenzung im Einzelfall Schwierigkeiten macht und unerwartete Resultate zeigt.
Das dient aber letztlich nur dazu, die Rolle und die Möglichkeiten des wissenschaftlichen Systems innerhalb der Gesellschaft klarer zu bestimmen und wird deshalb letztendlich auch der Wissenschaft selbst nützen. Keith Parsons, der in seinem Buch „Drawing Out Leviathan: Dinosaurs and the Science Wars” den Standpunkt vertrat, dass die konstruktivistische und postmoderne Kritik der Wissenschaften entweder trivial und wahr, oder interessant und falsch oder inkonsistent ist, schreibt in seiner Einleitung zu „The Science Wars. Debating scientific knowledge and technology”: „There are few issues more important for the future of our civilization than the place of science in our culture. …Does science produce objective, impartial knowledge or, like fashion and politics, do social and cultural influences determine its course? Hard thinking will be required to answer these questions.” Dem ist nichts hinzuzufügen.
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