Medizin – das ist ein doppeldeutiges Wort. Medizin kann man im Schrank zu stehen haben und bei Bedarf, beim Auftauchen verschiedener kleiner oder größerer Leiden – herausholen und herunterschlucken, in der Hoffnung, es möge helfen, es möge wirken.
Medizin, das ist auf der anderen Seite eine Disziplin, die man erlernen kann, ein gesellschaftliches System, dem man durch Studium und Prüfungen beitreten kann, in dem man wirken kann – indem man hilft, und man hilft, indem man Medizin im obigen Sinne entwickelt und verschreibt.
Für die Überzeugung, dass eine bestimmte Medizin in einem konkreten Fall wirkt, gibt es zwei Argumentationsmöglichkeiten: Die Erfahrung und das Verstehen. Beides ist dem Laien nur begrenzt verfügbar, deshalb ist er bei der Anwendung der Medizin, die er im Schrank zu stehen hat auf das Vertrauen in die Medizin als Disziplin und gesellschaftliches System angewiesen. In seinem Vertrauen in das Fläschchen mit den Tropfen oder in die Packung mit den Pillen steckt das ganze Vertrauen in das medizinische System.
Das Vertrauen in die Medizin ist mit einer bestimmten Erwartung verbunden, wie Erfahrung in der Medizin gesichert wird und wie das Verständnis für die Wirksamkeit eines Medikamentes oder einer Heilmethode gewonnen wird. In unserer Kultur erwartet auch ein Laie, dass beides auf letztlich auf wissenschaftlichem Wege passiert: Erfahrung soll durch „klinische Studien” fundiert werden – auch wenn nur wenige eine genaue Vorstellung davon haben, wie so eine Studie genau gemacht wird, erwartet man dahinter sichere, allgemeine, überprüfbare Methoden, die die tatsächliche Wirksamkeit eines Mittels von zufälligen Erfolgen unterscheiden können.
Andererseits ist es tief in unserer Kultur verankert, dass Erfahrung alleine nicht ausreicht, um einer Methode zu vertrauen. Es war tatsächlich schon Aristoteles, der gleich zu Beginn seiner „Metaphysik” bemerkte, dass der, derjenige, der auch die Gründe kennt, mehr Achtung genießt als der, der nur Erfahrung hat. Wenn wir das Griechenland von Platon und Aristoteles als Wiege der westlichen Kultur ansehen, dann hat diese Hochachtung vor dem Verstehen und dagegen niedrigere Bewertung der puren Erfahrung tatsächlich eine lange Tradition – sie gehört sozusagen zu den Grundlagen des spezifischen Vertrauens in Spezialisten, durch die die Differenzierung und Arbeitsteilung erst möglich wird. [1]
Für die Medizin bedeutet das: „Erfahrung ist gut, wissen warum ist besser.” Studien, die anhand von Stichproben und statistischen Vergleichen die Wirksamkeit einer Behandlung nachweisen, sind eine gute Sache, aber wenn Biologen, Chemiker und Physiologen sagen, sie wissen, welches Enzym durch welchen Wirkstoff wie motiviert wird, unser Leiden zu beenden, dann ist das besser.
Nun gibt es Verfechter von Heilmethoden, die Wirksamkeit und Heilerfolg behaupten ohne dass sie diese Methoden der Rechtfertigung des Vertrauens für sich akzeptieren. Die Ergebnisse von Studien mit statistischen Methoden lehnen sie ab, da diese eben die Masse und nicht den Einzelfall betrachten. Ein Mittel, das der besonders geschulte und erfahrene Heiler für den Einzelfall nach nicht objektiv nachvollziehbaren Kriterien auswählt, kann gar nicht in einem statistischen Massentest geprüft werden. Wissenschaftliches Verstehen des Wirkmechanismus ist deshalb irrelevant, weil man eben nicht alles am Menschen wissenschaftlich erklären kann.
Gegen eine solche Argumentation kommt man mit wissenschaftlicher Beweisführung nicht an, weil sie ja schon die Grundannahmen des wissenschaftlichen Ansatzes in Abrede stellt. Es handelt sich um eine Grundentscheidung, welche Art von Argumentation man letztlich als gültig zulässt, und diese Grundentscheidung ist selbst nicht innerhalb des Systems der Medizin begründbar.
Letztlich ist Erfahrung im Alltag immer subjektiv, und wenn einer gegen sein Leiden verschiedenste Produkte der wissenschaftlichen Medizin erfolglos probiert hat, dann aber nach der Behandlung durch eine orientalische Methode gesund wurde, dann zählt das für ihn und seine Bekannten mehr als tausend wissenschaftliche Erklärungen und klinische Studien.
Das heißt nicht, dass eine orientalische Heilmethode oder eine afrikanische Therapie nicht mit Methoden der wissenschaftlichen Medizin analysiert werden kann. Jeder traditionelle Behandlungsweise aus fernen Ländern kann als Ideen-Quelle für neue Therapien angesehen werden, ihre Wirksamkeit kann in Studien auf die Probe gestellt werden, und es kann versucht werden, ihre Wirkungsweise wissenschaftlich zu erklären – und das mit dem ausdrücklichen Ziel, von den Erfahrungen und Traditionen anderer Kulturen zu lernen.
Aber wenn die Einordnung in das wissenschaftliche Medizinverständnis nicht gelingt, wird das für die, welche die Verbreitung dieser Methoden vorantreiben, kein Grund sein, ihre Bemühungen infrage zu stellen. Diese Methoden setzen eben ein ganz anderes Grundverständnis von Medizin voraus, weshalb die Methoden der Rechtfertigung, die in einer wissenschaftlich geprägten Medizin gelten, hier nicht anwendbar sind.
Es wäre jedoch falsch, daraus eine pluralistische Einstellung abzuleiten, die alles zulässt, wovon kein (nachweislicher) Schaden ausgeht und was irgendwie auf der Erfahrung beruht, dass es hilft. Dass traditionell oder autoritär fundierte Verfahren gegen wissenschaftliche Kritik immun sind, heißt ja noch nicht, dass gar keine Kritik möglich ist.
Es ist gerade die Immunität gegen wissenschaftliche Argumentation, die Kritik nötig macht. Dazu muss jedoch das Feld der Wissenschaft verlassen werden und die Begründung des Anspruchs der Wissenschaftlichkeit selbst hinterfragt werden.
Warum vertrauen wir denn dem, der die Gründe kennt, mehr als dem, der nur auf Erfahrung verweisen kann? Die Antwort ist einfach: Weil es uns wenigstens grundsätzlich von seiner Autorität unabhängig macht. Gründe kann man aufschreiben und unabhängig von dem, der sie aufgeschrieben hat, überprüfen, nachvollziehen und lehren. Wer Gründe angibt, kann sich zwar irren, aber gerade das macht das Berufen auf Gründe so stark: Sich irren können heißt ja, den Irrtum feststellen und korrigieren zu können. Angaben über Ursachen können überprüft werden, über Begründungen kann man diskutieren, über Erfahrungen nicht. Erfahrungen schaffen eine unangreifbare Autorität, gegen die es keine Möglichkeit der Kritik gibt.
Es ist also der emanzipatorische Anspruch der Aufklärung, der, wenn man Aristoteles liest, schon lange vor Kant in der Welt war, der uns berechtigt, auf der wissenschaftlichen Begründbarkeit medizinischer Heilverfahren zu bestehen.
Für die wissenschaftliche Medizin hat das jedoch zwei Konsequenzen:
Zum einen darf sie ein ihr fremdes Heilverfahren nicht ablehnen, nur weil die Gründe seines Wirkens (noch) nicht bekannt sind oder noch nicht genügend sichere klinische Studien existieren, die die Wirkung tatsächlich belegen. Täte sie das, würde sie selbst einen anti-emazipatorischen, autoritären Weg der Ausgrenzung einschlagen.
Zum anderen muss sie, wie jede Wissenschaft, Kritik an ihrer eigenen Praxis zulassen – und sie muss jede Neigung, gegenüber Laien eine Autorität aufzubauen, die sich auf der Erfahrung des Erfolgs gründet, vermeiden. Wenn bei der Kommunikation mit dem Publikum nicht die emanzipatorische Bedeutung der wissenschaftlichen Methode im Mittelpunkt steht sondern eigene Erfolge gegen fremde Misserfolge aufgewogen werden, kommt man schnell in die Defensive, weil der Erfolg in der Medizin eben meist sehr subjektiv beurteilt wird.
Für die westliche Kultur wird oft das Bild des Schmelztiegels verwendet, in dem alle Traditionen und Methoden zusammenkommen können. Dass dabei kein grauer blasiger Brei sondern eine stabile Legierung entsteht, dafür sorgt nicht die Dominanz einer bestimmten Zutat, sondern die aufgeklärte Vernunft, die die Hitze reguliert.
[1] Es darf allerdings auch nicht verschwiegen werden, dass Aristoteles im gleichen Atemzuge bemerkt, dass der Erfahrene oft erfolgreicher ist als der, der die Gründe kennt, da der erstere immer den Einzelfall sieht, während der letztere das Allgemeine betrachtet.
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