Verifikation oder Falsifikation von Theorien, das könnte seit Karl Poppers “Logik der Forschung” als die Grundentscheidung der Erkenntnistheorie der Wissenschaften bezeichnet werden. Eine endgültige Bestätigung einer Theorie ist nicht möglich, sie ist logisch ausgeschlossen, da aus allen empirisch gewonnenen Erfahrungssätze nur induktiv auf allgemeine Gesetze der Theorie geschlussfolgert werden kann.

Deshalb hat Karl Popper das Verifikations- durch das Falsifikationsprinzip ersetzt: Theorien müssen widerlegbar sein, müssen der empirischen Nachprüfung durch Experimente ausgesetzt werden. Dieses Prinzip kann einerseits missverstanden werden, andererseits wird es in der tatsächlichen Wissenschaft kaum in reiner Form angewandt.

Man könnte Poppers Forderung nach Falsifizierbarkeit so verstehen, dass es in der Wissenschaft immer möglich und erlaubt sein muss dass jemand eine neue Theorie entwickelt, die den empirischen Befunden besser entspricht als eine alte Theorie und dass damit die alte durch die neue Theorie falsifiziert werden würde. Aber das entspricht nicht Poppers Vorstellungen. Nach Popper muss eine Theorie, um dem Anspruch der Wissenschaftlichkeit zu genügen, von vornherein so gebaut sein, dass sie falsifizierbar ist. Popper schreibt bereits im Vorwort (Logik der Forschung, 11. Auflage, Mohr Siebeck, Tübingen 2005, Seite XX): “Wann immer wir nämlich glauben, die Lösung eines Problems gefunden zu haben, sollten wir unsere Lösung nicht verteidigen, sondern mit allen Mitteln versuchen, sie selbst umzustoßen.”

Dieses Verfahren stellt Popper sich so vor, dass aus dem wissenschaftlichen theoretischen System Sätze abgeleitet werden, über die “im Zusammenhang mit der praktischen Anwendung, den Experimenten usw., entschieden” werden kann. “Fällt eine Entscheidung negativ aus, werden Folgerungen falsifiziert, so trifft ihre Falsifikation auch das System, aus dem sie deduziert wurden.” (ebenda Seite 9)

Die Notwendigkeit, Falsifizierbarkeit zum Prinzip der empirischen Wissenschaften zu machen, erwächst für Popper aus dem Abgrenzungsproblem: empirische Wissenschaften müssen gegen metaphysische Erklärungssysteme der Welt abgegrenzt werden. (ebenda, Seite 10). Dieses Abgrenzungskriterium sieht Popper im Falsifikationsprinzip: “Ein empirisch-wissenschaftliches System muss an der Erfahrung scheitern können.” (ebenda, Seite 17)

Popper hat seine Erkenntnislogik selbst als eine “Theorie der empirischen Methode” bezeichnet, als “die Theorie dessen, was wir Erfahrung nennen”. Misst man sein System deshalb selbst am Falsifikationsprinzip, so ist sie längst widerlegt. Weder handeln Wissenschaftler tatsächlich nach dem starken Popperschen Falsifikationsprinzip, wenn sie Theorien entwickeln, noch wäre Wissenschaft überhaupt möglich und erfolgreich, wenn Poppers Forderung tatsächlich zur Norm für empirisch-wissenschftliche Systeme erhoben werden würde.

Die wohl bekannteste Darstellung der Tatsache, dass Poppers Falsifikationsprinzip nichts mit der tatsächlichen Wissenschaft zu tun hat, ist Paul Feyerabends “Wider den Methodenzwang” (Suhrkamp Taschenbuch Wissenschaft, Frankfurt am Main 1986). Im Abschnitt 5 zeigt Feyerabend an vielen Beispielen von Newtons Farbenlehre bis Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie, dass es keine einzige Theorie gibt, die jemals mit allen bekannten Tatsachen auf ihrem Gebiet übereinstimmt. Und die Schwierigkeiten entstehen nicht durch Gerüchte oder nachlässige Verfahren, sondern durch Experimente und Messungen von höchster Genauigkeit und Zuverlässigkeit (ebenda, Seite 71).

Es wäre fatal, wenn sich Wissenschaftler tatsächlich entsprechend des Popperschen Falsifikationsprinzips verhalten würden und ihre Theorien als widerlegt betrachten würden, wenn sie anerkannten empirischen Tatsachen widersprechen. Manchmal kann man solche Tatsachen nutzen, um Theorien zu verbessern, d.h., man sucht nach zusätzlichen, bisher nicht berücksichtigten Mechanismen, die die Abweichung zwischen theoretischer Vorhersage und empirischem Befund erklären – allerdings ist es oft schwer, solche Annahmen von ad-hoc-Hypothesen zu unterscheiden, die nur eingeführt werden, um eine liebgewonnene Theorie halten zu können. Manchmal muss man aber auch einfach viel Geduld haben, so wie beim Olbersschen Paradoxon, das von Wilhelm Olbers bereits 1823 publiziert wurde (und eigentlich schon länger bekannt ist). Hätte man im 19. Jahrhundert diesen empirischen Befund nehmen sollen, um die Vorstellung von einem unendlichen Weltall aufzugeben? Es war richtig, das Problem zu ignoriere, bis 100 Jahre später eine Theorie entwickelt werden konnte, aus der auch das Olberssche Paradoxon aufgelöst werden konnte.

Was offen bleibt, ist das Abgrenzungskriterium, welches Popper zur Unterscheidung von metaphysischen und empirisch-wissenschaftlichen Welterklärungsversuchen im Falsifikationsprinzip gefunden zu haben glaubte. Leider ist die Sache nicht so einfach, wie Popper glaubte – der Unterschied zwischen Wissenschaft und Metaphysik kann zwar normativ leicht festgelegt werden, ist aber deskriptiv leider nicht am Falsifikationsprinzip feststellbar.

Kommentare (27)

  1. #1 Christian W
    Mai 5, 2009

    Ich weiß nicht, ob Sie Popper falsch verstanden haben oder ich. Als ich mich vor ca. einem Dreivierteljahr mit Erkenntnistheorie vor und bis Popper auseinandersetzen musste, kam ich zu dem Schluss, dass es bei seinem Fallibilismus darum geht, dass eine These falsifizierbar sein müsse, nicht dass sie von vornherein als bereits falsifiziert betrachtet werden soll, nur weil sie “empirischen Tatsachen” widerspräche. Dieses Axiom wäre auch gleich die Abgrenzung zur Metaphysik, wo es eben gang und gäbe ist, Behauptungen und Ideen völlig ohne Gelegenheit zur Widerlegung zu formulieren.

    Ein Beispiel: Ich behaupte, Rotwein wirkt besser gegen Hautausschlag als ein Placebo oder keinerlei Behandlung. Diese meine These lasse ich durch die akzeptierte wissenschaftliche Methode “doppelt verblindete placebokontrollierte Studie” testen und erkläre mich bereit, sie im Falle eines negativen Befundes (sprich, der Rotwein wirkt nicht besser als ein Placebo oder gar nichts) aufzugeben. Sollte die Studie aber für meine Behauptung positiv ausfallen, würde sie in die Theorie der Wirkzusammenhänge zwischen Umwelt und menschlicher Gesundheit (=evidenzbasierte Humanmedizin) eingegliedert werden können. Und natürlich im Folgenden weiter untersucht, sprich auf weitere Falsifizierbarkeit getestet werden.
    Wenn man nicht davon ausginge, dass meine These falsifizierbar sei oder dass sie bereits falsifiziert wäre, weil sie “empirischen Tatsachen” widerspricht, bräuchte man sie gar nicht erst testen und sie würde nie zum Teil einer Theorie werden. Denn gerade weil etwas “empirischen Tatsachen” widerspricht, muss es erkenntnistheoretisch diskutiert werden, weshalb seine Falsifizierbarkeit als Messinstrument nötig ist. Wenn alles als bereits falsifiziert gelten würde, was “empirischen Tatsachen” widerspricht, dann können wir jegliche Forschung einstellen und nur noch untersuchen, was wir sowieso schon wissen und “empirische Tatsache” ist.

    Wenn ich nun aber behaupte, Rotwein wirkt besser als ein Placebo oder gar keine Behandlung gegen Ausschlag, aber nur wenn die Sterne “günstig” stehen oder ein Zauberkünstler “die richtigen” Worte spricht, was schon technisch überhaupt nicht per Doppelblind-Placebo-Studie untersuchbar sei, dann ist das keine These im Popperschen Fallibilismus-Sinn. Dann ist das Metaphysik und alles Mögliche, nur nicht erkenntnistheoretisch diskutabel. Und schon gleich gar nicht wissenschaftlich.

    Aber wie gesagt, ich möchte nicht ausschließen, Popper komplett falsch verstanden zu haben. Für einen Informatiker ist er ja auch nicht unbedingt die intuitivste Lektüre. Mir wurde nach Seminararbeit und Verteidigung Fehlerfreiheit bescheinigt, aber was heißt das schon. Ich begreife ja nicht einmal, was “empirische Tatsachen” sein sollen. Sind damit Beobachtungsergebnisse selbst gemeint oder deren Einstellen bei empirischen Messungen? Erstere kenne ich als alles andere als Tatsachen (sondern subjektive Wahrnehmung), zweiteres als reproduzierbare Experiment-Resultate, die jedoch nichts erklären, sondern bloß (gerade und besonders laut Popper) das wissenschaftliche Netz und doppelten Boden gegen Irrtümer darstellen. Will man sich auf diese experimentellen Daten schon bei der Entwicklung von Thesen stützen, werden sie als Falsifikations-Instrument komplett nutzlos.
    Also, bitte erleuchten Sie mich.

    Grüße
    Christian W

  2. #2 Gregor
    Mai 5, 2009

    Ich finde es immer wieder interessant, wie unterschiedlich Popper verstanden wird. Denn ich finde, er schreibt sehr verständlich.
    Ich habe natürlich schon öfter vergleichbare Interpretationen wie die obige gelesen, diese für mich aber in der Auseinandersetzung mit der Primärliteratur nie bestätigt gefunden. Vielmehr war mein Eindruck, dass bezüglich Popper einer vom anderen abschreibt, ohne sich das Original in der Gesamtheit anzuschauen. Ist meines Erachtens das Schicksal jeden Buches – wer hat z. B. schon die Bibel oder das Kapital selber gelesen, wenn es doch die Zusammenfassung auf fünf Seiten im Netz gibt.
    Ihr Eintrag vermittelt allerdings den Eindruck, dass Sie sich intensiv mit dem Gedankengebäude Poppers im Original auseinandergesetzt haben. Und dann komme ich wieder zum Ausgangspunkt – unglaublich wie unterschiedlich Popper doch verstanden wir – einfach nur unglaublich.

  3. #3 Christian W
    Mai 5, 2009

    @Gregor
    Bin jetzt ich gemeint oder Herr Friedrich?

  4. #4 Jörg Friedrich
    Mai 5, 2009

    @Christian W: Die Sätze der Theorie, die empirisch überprüft werden sollen, sind nicht von vornherein fasifiziert, sie sollen, nach Popper, so formuliert sein, dass sie empirisch überprüft und damit bestätigt oder falsifiziert werden können. Die Bestätigung eines solchen Satzes stützt dann die Theorie (ohne sie zu beweisen) die Falsifizierung des Satzes würde (nach Popper) die ganze Theorie widerlegen, da der Satz ja aus der Theorie deduziert wurde.

    Das Rotwein-Beispiel ist insofern noch nicht ausreichend, um dieses Verfahren zu verdeutlichen, weil nicht klar ist, ob der Satz “Rotwein wirkt besser gegen Hautausschlag als ein Placebo oder keinerlei Behandlung” ein Beobachtungssatz sein soll oder eine Prämisse, aus der Beobachtungssätze gefolgert werden. Ich denke, er steht irgendwo dazwischen. Nehmen wir an, sie haben eine Theorie darüber, wie Rotwein auf die Merchanismen in hautzellen einwirkt. Aus dieser Theorie leiten Sie deduktiv den Satz “Rotwein wirkt besser gegen Hautausschlag als ein Placebo oder keinerlei Behandlung” ab und daraus den Satz: “In einer doppelt verblindeten placebokontrollierten Studie sind mehr Patienten nach einer Rotwein-behandlung geheilt als nach einer Plazebo-Behandlung.”

    Das ist ein empirisch überprüfbarer Satz. Wenn er richtig ist (dh wenn die Studie das vorhergesagte Ergebnis erbringt) , ist Ihre Theorie gestützt, aber nicht verifiziert, wenn die Studie ein negatives Ergebnis erbringt, würde Popper sagen, die Theorie ist falsifiziert.

  5. #5 Christian W
    Mai 5, 2009

    @Jörg Friedrich
    Ich habe im Kommentarbereich zu Ihrem ersten Artikel mehrfach ausführlich erläutert, was ich weite Teile der wissenschaftlichen Welt unter einer Theorie verstehen. Niemand kann “eine Theorie [über etwas] haben”, eine Theorie ist das Höchste, Universellste (=für jeden Menschen gleich valide) in der Wissenschaft, der aktuell gesichertste Wissensstand über die Wirklichkeit. Wenn Sie das weiter ignorieren möchten, bitte sehr. Aber sobald Sie auf Kommentare von mir antworten, kommen Sie nicht umhin, genau darauf zu achten, ob ich “Behauptung”, “These” oder “Theorie” geschrieben habe.
    Ich habe nämlich von “meiner These” geschrieben, weder von “Satz” noch von “Theorie”. Die für meine These “zuständige” Theorie ist die evidenzbasierte Medizin, die Erklärung für alles die was heute nachgewiesenermaßen Kranke gesund macht. Meine These ist falsifizierbar (wenn Studien zeigen, dass der Wein nichts bewirkt), die Theorie auch (wenn die Heilverfahren und Medikamente der evidenzbasierten Medizin spontan nicht mehr besser heilen als Placebos oder gar keine Behandlung), aber eine Falsifizierung oder ein Ausbleiben derselben bzgl. meiner These ändert nichts an der Falsifizierbarkeit oder Falsifizierung der Theorie.

    Davon habe ich geschrieben, dass (nicht nur aber vor allem nach Popper) natürlich jede Theorie auch falsifizierbar sein muss, aber die tatsächliche Falsifizierung einer Theorie (Newton, Relativität, Medizin, Evolution, etc.) nichts mit empirischen Tatsachen zu tun hat, sondern sofort einen kompletten Umsturz (mindestens) einer gesamten Naturwissenschaft bedeutet. Wird eine These falsifiziert, bleiben alle Theorien unangetastet (gewissermaßen sind Theorien Sammlungen aller “empirischen Tatsachen”), wenn eine These nicht falsifiziert werden kann, werden Theorien erweitert. Theorien werden nie falsifiziert.

    Grüße
    Christian W

  6. #6 Christian W
    Mai 5, 2009

    Oh, ich habe leider im ersten Satz einiges durcheinandergeworfen. Es muss heißen:
    “…was weite Teile der wissenschaftlichen Welt und ich…”

  7. #7 Florian Freistetter
    Mai 5, 2009

    @Jörg Friedrich: Christian W schreibt “Theorien werden nie falsifiziert.”

    Da hat er in gewissen Sinne recht. Newtons Theorie der Gravitation ist ein gutes Beispiel. Ist diese Theorie falsch/falsifiziert? Ich (und Unmengen anderer Wissenschaftler) benutzten sie dennoch täglich für die wissenschaftliche Arbeit und zwar mit äußert guten Ergebnissen. Allerdings wissen wir eben auch, wo diese Theorie nicht mehr funktioniert und wo man stattdessen die Relativitätstheorie verwenden muss.

  8. #8 Gregor
    Mai 5, 2009

    @Christian:
    Ich meinte Herrn Friedrich. Ist aber inhaltlich egal, weil es mir nur darauf ankommt, jeden zu ermuntern Popper selber zu lesen und sich seine Meinung unabhängig von anderen zu bilden.
    Popper zu lesen halte ich für einen echten Gewinn, insbesondere da er meiner Ansicht einen großen Einfluss auf die Wissenschaftstheorie hat. Insbesondere für Leser eines solchen Blogs wäre es meiner Meinung nach sinnvoll, sich nicht auf Meinungen aus zweiter Hand zu verlassen.

  9. #9 Chupacabra
    Mai 5, 2009

    @Florian: Ich vermute mal, es ist eine Definitions- bzw. Ansichtsfrage. War denn Teil der ursprünglichen Newton-Theorie, dass die Newton-Mechanik überall und immer gilt?

    Falls ja, dann wurde sie durch Einstein widerlegt und somit falsifiziert. Die heutige Newton-Theorie sehe ich dann eigentlich als eine Newton 2.0 an, die zusätzlich zu Newton 1.0 die Forderung enthält, alle Geschwindigkeiten müssen < 10% der Lichtgeschwindigkeit erfüllen.

  10. #10 Chupacabra
    Mai 5, 2009

    Sorry, erster Post einhielt das Kleinerzeichen.

    @Florian: Ich vermute mal, es ist eine Definitions- bzw. Ansichtsfrage. War denn Teil der ursprünglichen Newton-Theorie, dass die Newton-Mechanik überall und immer gilt?

    Falls ja, dann wurde sie durch Einstein widerlegt und somit falsifiziert. Die heutige Newton-Theorie sehe ich dann eigentlich als eine Newton 2.0 an, die zusätzlich zu Newton 1.0 die Forderung enthält, alle Geschwindigkeiten müssen kleiner 10% der Lichtgeschwindigkeit sein.

  11. #11 Jörg Friedrich
    Mai 5, 2009

    @Christian W. Das, was Sie These nennen ist allerdings von Poppers Falsifikationsprinzip gar nicht betroffen. Ich möchte hier nicht mit Ihnen über Ihren Theorie-begriff diskutieren ich habe verstanden, dass Sie diesen begriff anders verwenden als ich, und ich muss gestehen, dass ich Ihren Theorie-begriff nicht verstehe. Ersetzen Sie bitte in meiner Erläuterung des Rotwein-Beispiels das Wort “Theorie” durch “deduktiv aufgebautes System von Sätzen”.

    @Gregor: Ich kann Ihnen nur zustimmen, was das Selbst-Lesen von Poppers “Logik der Forschung” betrifft. Ich aber natürlich gern wissen, worin Sie den Unterschied im verständnis sehen, d.h., was an meiner Popper-Interpretation Sie so überrascht.

    @Florian Freistetter: Die Tatsache, dass falsifizierte Theorien im normalen Wissenschaftsbetrieb weiterhin gute Dienste erweisen können, hat Popper meines Wissens nicht betrachtet, das war auch nicht das Thema seiner “Logik der Forschung”. Popper ging es ja vor allem darum, ein Abgrenzungskriterium zu finden, an dem man feststellen kann, ob eine Theorie empirisch-wissenschaftlich genannt werden kann. Dieses Kriterium war für ihn eben die Falsifizierbarkeit. Dass falsifizierte theorien innerhalb einer Anwendungsdomäne weiterhin verwendet werden können, ist dadurch nicht ausgeschlossen. man hat später auch versucht, die Falsifizierbarkeit auf solche Anwendungsdomänen zu beziehen – das löst dann das Unbehagen, mit einer falsifizierten Theorie zu arbeiten.

  12. #12 Der Bo
    Mai 6, 2009

    @Christian W

    Sie schreiben : “Davon habe ich geschrieben, dass (nicht nur aber vor allem nach Popper) natürlich jede Theorie auch falsifizierbar sein muss, aber die tatsächliche Falsifizierung einer Theorie (Newton, Relativität, Medizin, Evolution, etc.) nichts mit empirischen Tatsachen zu tun hat, sondern sofort einen kompletten Umsturz (mindestens) einer gesamten Naturwissenschaft bedeutet. Wird eine These falsifiziert, bleiben alle Theorien unangetastet (gewissermaßen sind Theorien Sammlungen aller “empirischen Tatsachen”), wenn eine These nicht falsifiziert werden kann, werden Theorien erweitert. Theorien werden nie falsifiziert.”

    Warum die Falsifizierung einer Theorie nichts mit empirischen Tatsachen zu tun haben soll ist mir unklar. Nehmen wir die Newtonsches Axiome der Mechanik am Anfang des 20. Jahrhunderts mit aufkommen der Quantenmechanik. Es ist ja nicht so, dass sich jemand die Quantenmechanik ausgedacht hat, weil er Lust darauf hatte sondern weil die Newtonsche Mechanik bei bestimmten Phänomenen (empirischen Tatsachen) nicht mehr korrekte Ergebnisse lieferte. (Schwarzkörperstrahlung, Ultraviolettkatastrophe, Atomspektren, Photoelektrischer Effekt etc…) Für diesen Bereich war die Newtonsche Mechnaik falsifiziert obwohl sie in größeren Dimensionen weiterhin genügend gute Näherungen erbrachte. Insofern stimme ich mit ihnen überein, dass damit die Newtonsche Mechanik nicht gleich verworfen wurde (nur eingeschränkt) aber mich hat der Ausschluss von empirischen Tatsachen gestört.

    Ich will ihnen aber noch ein Beispiel nennen, bei der es durch empirische Fakten zum Aufgeben einer ganzen Theorie gekommen ist, da die ganze Theorie falsifiziert wurde. Ich rede von der Phlogistontheorie, die heute oft zu unrecht belächelt wird, obwohl sie von 1650 an fast 140 Jahre lang die vorherrschende Theorie war und viele Phänomene sehr gut erklären konnte. Auch wenn sich die damaligen Chemiker dem Problem bewusst waren, dass Holz beim Verbrennen schwerer wird, ignorierten sie es eine Weile. Es deckt die Tatsache zwar, das Theorien beim ersten Anzeichen von Unvollständigkeit oder Falschheit nicht sofort weggeworfen werden, aber Sie müssen zugeben, dass die Gewichtszunahme bei der Verbrennung von Holz eine Falsifikation der kompletten Phlogiston-Theorie darstellt, da sie deren einzige Annahme wiederlegt. (Genau würde die Quantenmechanik wiederlegt werden, wenn man irgendwann hieb und stichfest rausfinden würde, dass Energien nicht gequantelt sind).Die Theorie mag weiterhin benutzt werden aus rein praktischen Gründen, aber sie wurde de facto wiederlegt, oder nach Popper falsifiziert.

    Allgemein gesprochen kann man sich glaube ich darauf einigen, dass alle Theorien nach Popper in irgendeiner Art und Weise falsch sind, da keine Theorie 100%ig exakte Messwerte liefert und somit (je nach dem welche Maßstäbe man anlegt) falsifiziert ist. Der Nutzen von Popper liegt im Erkennen des Wesens einer Theorie, nicht unbedingt in der praktischen Umsetzung von Poppers Vorschlägen. Wobei man natürlich sagen muss, dass es einen gehörigen Unterschied macht ob man nun auf rein geistiger Ebene über den Stand der Wissenschaft diskutiert oder seine Berechnungen noch vor dem Wochenende durchbringen will. Da sagt man sich eher “Natürlich ist die Theorie nicht 100% korrekt, aber es ist die Beste, die wir haben”

  13. #13 Hans
    Juni 15, 2009

    Also was würden Sie sagen, was ist genau die Absicht von Poppers Falsifikationstheorie?

  14. #14 Jörg Friedrich
    Juni 15, 2009

    @Hans:

    Poppers Absicht war, ein Abgrenzungskriterium zu finden: Wissenschaftliche Systeme (Theorien) von Nicht-Wissenschaftlichen abzugrenzen. Wenn man es nicht zu eng betrachtet ist ihm das auch gelungen: Wissenschaftliche Theorien enthalten Ableitungen von Beobachtungssätzen, die empirisch überprüft werden können und es damit möglich machen, die Theorie selbst zu prüfen.

    Man darf daraus nur nicht die Konsequenz ziehen, dass jede Theorie, deren Beobachtungssätze im Widerspruch zu empirischen Befunden stehen, gleich als widerlegt zu gelten hat.

  15. #15 Hans
    Juni 16, 2009

    Also wo würden Sie sagen sind die Grenzen der Popperschen Falsifikationstheorie ?

  16. #16 Jörg Friedrich
    Juni 16, 2009

    Poppers Schlussfolgerung war, dass eine wissenschaftliche Theorie, bei der es Widersprüche zwischen Beobachtungssätzen, die aus der Theorie abgeleitet sind, und empirischen Befunden gibt, als widerlegt zu gelten hat.

    Ein solcher Widerspruch kann aber viele Gründe haben, deshalb ist Poppers Falsifikationskriterium nicht allgemein anwendbar. Darin besteht seine Grenze.

  17. #17 Hans
    Juni 16, 2009

    Bei allem Respekt, aber diese Antwort finde ich persönlich etwas zu knapp und ungenau formuliert. Können Sie diese genauer wiederholen und vielleicht ein Beispiel dazu geben?

  18. #18 Jörg Friedrich
    Juni 16, 2009

    Ein schönes Beispiel stellt die Perihel-Anomalie des Merkur dar. Nach Popper hätte die Newtonsche Theorie schon Mitte des 19. Jahrhunderts als widerlegt angesehen sein müssen, da sie nicht in der Lage war, diese Anomalie zu erklären. Statt jedoch diesen Schritt zu gehen, versuchte man zunächst, verschiedene Hypothesen in die Theorie einzuführen. Die naheliegende Hypothese war natürlich die Annahme, dass ein weiterer Himmelskörper, der noch nicht gefunden war, die Anomalie erklärt. Interessanterweise waren solche Hypothesen noch gar nicht fundiert zurückgewiesen, als bereits andere Hypothesen auftauchten, die die Netonsche Theorie radikaler infrage stellten. Auch das ist nach Popper eigentlich nicht möglich.
    (bis hierher können Sie die ganze Geschichte ausführlich bei Gähde nachlesen.

    Schließlich erklärte Einstein die Anomalie im Rahmen der Allgemeinen Relativitätstheorie. Allerdings ist die Sache damit noch nicht ganz zu Ende, denn Einsteins Berechnungen stimmten keineswegs besser mit den empirischen Befunden überein als die der vorhergehenden Theorien. (Siehe z.B. Gerold v. Gleich 1927) Man hätte also nach Popper Einsteins Theorie von Anfang an als falsifiziert ansehen müssen. Zunächst half man sich, wie v.Gleich auch Eddington zitiert damit, dass man die Bedeutung von Beobachtungen als unwichtiger gegenüber dem “Geist der neuen Theorie” betrachtete – das wäre bei Popper unmöglich, das wäre bei ihm völlig unwissenschaftlich. (ähnliches traf übrigens auch für die Rotverschiebung zu)

    Gleichzeitig suchte man natürlich nach den Gründen für die Abweichungen zwischen theoretischer Vorraussage und Beobachtung – und konnte schließlich alle Widersprüche ausräumen.

  19. #19 ilja
    Oktober 18, 2009

    Es ist mir schwer verstaendlich, dass Leute, von denen man annehmen sollte, dass sie Popper im Original gelesen haben, ihn so missverstehen koennen. Dies richtet sich vor allem gegen Feyerabend, aber nicht nur ihn.

    Ich habe zwar keine Seitenzahlen im Kopf, dazu sind es zu viele, aber Popper stellt eindeutig klar, dass eine Falsifikation auch nur eine theoretische Entscheidung ist, die ihrerseits falsifiziert werden kann. Er diskutiert ausfuehrlichst die Theorieabhaengigkeit von Beobachtungsresultaten und die Schlussfolgerungen daraus – dass eine Falsifikation nicht endgueltig ist.

    Angesichts dessen hat das, was Feyerabend und Sie kritisieren, nichts mit Popper zu tun, sondern nur mit einem trivialisierten Popper – was man erhaelt, wenn man versucht, Popper’s wichtigste Ideen in einem Satz zusammenzufassen.

    Ich kann mich daher nur der Empfehlung anschliessen, Popper selbst zu lesen.

  20. #20 Andrea N.D.
    Oktober 20, 2009

    @Jörg Friedrich:
    Ich bin jetzt sehr verunsichert. Ich kann Iljas Kommentar gut nachvollziehen, aber das würde ja bedeuten, dass Sie Popper falsch bzw. nur über Feyerabend interpretieren bzw. nicht genau gelesen haben. Könnten Sie freundlicherweise zum letzten Kommentar Stellung nehmen, insbesondere zu “Er diskutiert ausfuehrlichst die Theorieabhaengigkeit von Beobachtungsresultaten und die Schlussfolgerungen daraus – dass eine Falsifikation nicht endgueltig ist.”? Verstehe ich das richtig, dass Sie unter Wissenschaft verstehen, dass jemand empirisch etwas “findet” und dann erst die Theorie dazu entwickelt? Und das Popper dies auch tut? Trifft Iljas Kommentar überhaupt Ihren Artikel? Ist dessen Grundaussage nicht viel eher, dass Popper und Wissenschaft nicht zusammengehen, weil, wie Sie es im letzten Beispiel erklärt haben, Einstein dann sofort falsifiziert worden wäre und wir heute um Lichtjahre zurück wären, somit Popper eigentlich ein falsches Wissenschaftsverständnis entwickelt hat bzw. seine Ausführungen für die Wissenschaft unbrauchbar sind? Aber ist Popper wirklich so an der empirischen Falsifikation interessiert?

  21. #21 Jörg Friedrich
    Oktober 21, 2009

    Zunächst zu der Frage, ob Feyerabend Popper “trivialisiert” oder “falsch verstanden” hat. Ich halte das für unwahrscheinlich: Feyerabend war lange Zeit Poppers Schüler, er hat mit Popper persönlich zusammengearbeitet und war der Übersetzer von Poppers Schriften, u.a. übersetzte er “Die offene Gesellschaft und ihre Feinde” aus dem Englischen ins Deutsche. Feyerabend hat seinen eigenen Standpunkt in intensiver Auseinandersetzung mit Poppers Wissenschaftstheorie entwickelt.

    Auf keinen Fall soll der Eindruck entstehen, dass Feyerabend gezeigt hätte, dass Poppers Überlegungen “für die Wissenschaft unbrauchbar” sind. Sein Abrenzungskriterium der Falsifizierbarkeit hat in der Entwicklung der Naturwissenschaft des 20. Jhd. enormes geleistet, und zwar in normativer Hinsicht. Unter Naturwissenschaftlern ist inzwischen weitgehend akzeptiert, dass wissenschaftliche Theorien letztendlich Voraussagen für Experimente machen müssen, und dass das Nichteintreffen dieser Vorraussagen eine Theorie in ernste Schwierigkeiten bringt. Sehr schön kann man das in Lee Smolins Buch “The trouble with physics” nachlesen, in dem der Physiker die Stringtheorie genau aus diesem Grund angreift.

    Popper formuliert seinen normativen Anspruch allerdings zu stark. (@ilja: Sie müssten dann schon sagen, wo Popper diesen Anspruch relativiert. Wenn es so viele Zitatstellen gibt, geben Sie mir doch bitte eine oder zwei) Ein Experiment kann eine Theorie nicht wirklich widerlegen – es gibt immer Gründe, empirische Ergebnisse, die im Widerspruch zur Theorie stehen, zu interpretieren, zu erklären, zu deuten.

    Das ist der Grund, warum sich Feyerabend letztlich gegen Popper gewandt hat. Die wirkliche Wissenschaft ist nicht so, wie Popper es fordert. Um Wissenschaft und ihren Fortschritt zu verstehen, muss man über Popper hinausgehen. Feyerabend hat das versucht, dabei ist ihm allerdings das Abgrenzungskriterium verloren gegangen.

    Mein aktueller Stand der Überlegung ist: Als Norm ist Poppers Falsifikationsprinzip völlig in Ordnung. Es ist, wie mit der Straßenverkehrsordnung: Sie ist die Basis dafür, dass wir alle ans Ziel kommen. Wenn man aber verstehen will, warum mancher schneller ist als ein anderer dann muss man untersuchen, warum einige hin und wieder erfolgreich sind, auch wenn sie gegen die Norm verstoßen.

  22. #22 Webbaer
    Oktober 22, 2009

    Wenn man aber verstehen will, warum mancher schneller ist als ein anderer dann muss man untersuchen, warum einige hin und wieder erfolgreich sind, auch wenn sie gegen die Norm verstoßen.

    Wobei hier der Esoterik die Tür geöffnet wird. Wenn man das will, OK, dann aber auch die Konsquenzen tragen…
    Ansonsten darf man sich auch bescheiden auf die Grenzen der Erkenntnis zurückziehen und einfach nur weiter an den Modellen arbeiten.
    MFG, WB
    PS: BTW, das Falsifikationsprinzip selbst muss nicht falszifizierbar sein, Haha. – Falsifikationen nicht endültig, auch haha, nun es droht in der Tat überall eine Verfeyerabendung.

  23. #23 Alexandre
    November 25, 2009

    “Ich habe zwar keine Seitenzahlen im Kopf, dazu sind es zu viele, aber Popper stellt eindeutig klar, dass eine Falsifikation auch nur eine theoretische Entscheidung ist, die ihrerseits falsifiziert werden kann. Er diskutiert ausfuehrlichst die Theorieabhaengigkeit von Beobachtungsresultaten und die Schlussfolgerungen daraus – dass eine Falsifikation nicht endgueltig ist.”
    “(@ilja: Sie müssten dann schon sagen, wo Popper diesen Anspruch relativiert. Wenn es so viele Zitatstellen gibt, geben Sie mir doch bitte eine oder zwei)”

    Obwohl es Ihre Aufgabe ist, den Lesern zu beweisen, dass Popper ein naiver bzw. absolutistischer Falsifikationist ist und Sie einen derartigen Beweis schuldig geblieben sind (den Sie auch niemals erbringen können, weil es Ihren Popper nie gegeben hat),
    werde ich hier trotzdem (obwohl nicht nötig, da Ihr Argument diesbezüglich ohne Beleg ist) Iljas Argument mit Belegen aus der ‘Logik der Forschung’ untermauern.
    Wie kann der Verweis auf nicht vorhandene Zitatstellen des Kritikers eine Stütze für die eigene Position sein? Dies ist mir unbegreiflich!
    Aus LdF 11. Aufl.:
    S.18:
    “Es sind ja immer gewisse Auswege möglich, um einer Falsifikation zu entgehen, – etwa ad hoc eingeführte Hilfshypothesen oder ad hoc abgeänderte Definitione; ist es doch sogar logisch widerspruchsfrei durchführbar, sich einfach auf den Standpunkt zu stellen, daß man falsifizierende Erfahrungen grundsätzlich nicht anerkennt.”
    S.26f.:
    “Denn wer an einem System, und sei es noch so ‘wissenschaftlich’ dogmatisch festhält (z.B. an dem der klassischen Mechanik), wer seine Aufgabe etwa darin sieht, ein System zu verteidigen, bis seine Unhaltbarkeit logisch zwingend bewiesen(bewiesen hervorgehoben, Anm. d. Verf.) ist, der verfährt nicht als empirischer Forscher in unserem Sinn; denn ein zwingender logischer Beweis für die Unhaltbarkeit eines Systems kann ja nie erbracht werden, da man ja stets experimentelle Ergebnisse als nicht zuverlässig bezeichnen oder etwa behaupten kann, der Widerspruch zwischen diesen und dem System sei nur ein scheinbarer und werde sich mit Hilfe neuer Einsichten beheben lassen…Wer in den empirischen Wissenschaften strenge Beweise verlangt [oder strenge Widerlegungen], wird nie durch Erfahrung eines Besseren belehrt werden können.”
    S.63:
    “Widersprechen anerkannte Basissätze einer Theorie, so sind sie nur dann Grundlage für deren Falsifikation, wenn sie gleichzeitig eine falsifizierende Hypothese bewähren.”
    S.83:
    “Die Festsetzung der Basissätze erfolgt anläßlich einer Anwendung (Anwendung hervorgehoben, Anm. d. Verf.) der Theorie und ist ein Teil dieser Anwendung, durch die wir die Theorie erproben (erproben hervorgehoben, Anm. d. Verf.); wie die Anwendung überhaupt, so ist die Festsetzung ein durch theoretische Überlegungen geleitetes planmäßiges Handeln.”

    Dann geht es weiter auf den Seiten 84-88. Jeder, der interessiert ist, sollte das mal nachlesen. Ich hebe jetzt nur noch hervor:
    S.87:
    “Die Analogie zu den Festsetzungen der Basissätze, zu ihrer Relativität, zur Fragestellung auf Grund der Theorie, ist deutlich.”

    Man beachte, dass Popper hier in einem einzigen Satz direkt auf die Relativität und Theoriegeleitetheit der Basissätze hinweist. Und genau darauf hat Ilja hingewiesen!
    S. 88:
    “So ist die empirische Basis der objektiven Wissenschaft nichts ‘Absolutes’; die Wissenschaft baut nicht auf Felsengrund.”

    Das sollte genügen, um die Einwände Iljas, denen ich mich voll und ganz anschließe, zu belegen.
    Nur mal so: Auch Kuhn war sich all dessen bewusst, wenn er schreibt:
    “…those who misinterpret Sir Karl by attributing to him a belief in absolute rather than relative falsification.”
    Logic of Discovery or Psychology of Research in: The Essential Tension, S. 282, Fußnote 29

  24. #24 Immanuel Scheerer
    August 1, 2010

    Ich entschuldige meinen überaus späten Kommentar, aber ich habe diesen überaus interessanten Beitrag gerade erst gelesen.

    Zunächst zum grundlegenden Problem dieser Diskussion: Es steht zur Disposition, ob das Falsifikationsprinzip nicht falsifiziert sei. Das ist ein zyklisches Problem, denn wenn das Falsifikationsprinzip falsch wäre, so wäre seine eigene Falsifikation nicht sehr bedeutend.

    Von Feyerabend habe ich bisher nur die Autobiographie (“Zeitverschwendung”) gelesen, aber “Wider den Methodenzwang” ist soeben im Einkaufswagen eines großen Online-Buchversandes gelandet. Daher werde ich aber zum jetzigen Zeitpunkt ohne Einbezug von Feyerabends Erkenntnissen argumentieren müssen.

    Die Errungenschaft von Poppers Falsifikationsprinzip ist, dass es die einzige mir momentan bekannte “harte” Abgrenzung zu allen anderen Erkenntnismöglichkeiten des Menschen schafft, sei es Philosophie, Religion und meinetwegen Esoterik: Nur mit dieser “harten” Methode kann der natürliche und notwendige Hang des Menschen, sich mit den eigenen Hypothesen und Erkenntnissen zu identifizieren, in Schach gehalten werden. Das ist die einzige Basis für eine annähernd “objektive”, vom individuellen Menschen unabhängige Erkenntnis geschaffen werden, die das Prädikat “objektiv” am ehesten verdient.

    Unabhängig davon, ob Poppers Falsifikationsprinzip in der Praxis universell angewendet werden kann, würde sein Preisgabe die Preisgabe der “harten” Wissenschaften bedeuten: Dann könnte die Wissenschaft im Wesen nicht von den anderen Erkenntnismöglichkeiten unterschieden werden, solange kein anderes Abgrenzungskriterium gefunden wird.

    Daher ist meine Hypothese: Die Grenzen des Popper’schen Falsifikationsprinzips sind die Grenzen der “harten” Wissenschaften. Falls diese Hypothese stimmen sollte, ist in der Wissenschaft eine breite Diskussion über diese Grenze notwendig, weil sonst zwischen “harter” Wissenschaft und Esoterik nicht unterschieden werden kann, was ein sehr eigentümliches Licht auf den heutigen Wissenschaftsbetrieb werfen dürfte.

    Zur universellen Anwendbarkeit des Falsifikationsprinzips: Es ist notwendig, zwischen dem Kern oder dem “Wesen” einer Hypothese auf der einen Seite, und den daraus folgenden oder abgeleiteten Konsequenzen auf der anderen Seite zu unterscheiden. Die Falsifikation nach Popper kann nur sinnvoll auf den Kern einer Hypothese angewendet werden. Würde man es auf alle abgeleiteten Konsequenzen anwenden wollen, würde man gleichzeitig die Existenz der Weltformel postulieren, die alle Erkenntnisbereiche in Zusammenhang bringen kann, und damit einem absoluten Reduktionismus entspricht, der alle wahrnehmbaren Ebenen auf eine einzige abbilden kann.

    Mehr dazu, wenn ich “Wider den Methodenzwang” gelesen habe.

  25. #25 Stefan W.
    März 20, 2011

    Wir warten. 🙂

  26. #26 Jörg Friedrich
    Mai 10, 2011

    @Alexandre: Auch wenn Ihr Kommentar schon 1 1/2 Jahre zurückliegt möchte ich Ihnen noch antworten, schließlich haben Sie sich seinerzeit viel Mühe gemacht. Entschuldigen Sie bitte, dass ich damals nicht reagiert habe, Ihr Kommentar ist mir damals durchgegangen und erst jetzt, da ich diesen Ordner noch einmal durchschaue, sehe ich ihn.

    Sie zitieren Popper, aber sie zitieren gerade Sätze, in denen er Standpunkte darstellt, gegen die er sich wendet. Damit relativiert er seinen eigenen Standpunkt nicht, er zeigt, dass es in der Praxis Situationen gibt und geben kann, in denen sein Abgrenzungskriterium nicht erfüllt wird – gerade das sind aber für Popper Situationen, in denen gegen das Prinzip der Wissenschaftlichkeit verstoßen wird.

    Man könnte sagen “Wissenschaft ist eben nicht immer wissenschaftlich, weil Wissenschaftler auch Menschen sind”. Aber die Kritik an Popper, der ich mich anschließe, geht ja weiter: Wenn Wissenschaft nicht in vielen Fällen gegen das Poppersche Prinzip verstoßen würde, würde sie gar nicht vorankommen, also kann nicht das Verhalten der Wissenschaftler falsch sein, sondern das Poppersche Prinzip selbst ist unhaltbar.

    Ich habe das hier als Kommentar eingestellt obwohl dieses Blog längst geschlossen ist – vielleicht informiert das System Sie ja noch über meine Antwort. Auf meinem neuen Blog gibt es seit heute eine überarbeitete Version dieses Artikels

  27. #27 brautkleid günstig
    Juli 9, 2011

    Deshalb hat Karl Popper das Verifikations- durch das Falsifikationsprinzip ersetzt: Theorien müssen widerlegbar sein, müssen der empirischen Nachprüfung durch Experimente ausgesetzt werden. Dieses Prinzip kann einerseits missverstanden werden, andererseits wird es in der tatsächlichen Wissenschaft kaum in reiner Form angewandt.

    awesome!