Auf die Frage, ob jene nicht direkt beobachtbaren Objekte wirklich existieren, mit deren Eigenschaften und Verhalten wissenschaftliche Theorien die beobachtbaren Phänomene erklären, hatte Ian Hacking Anfang der 1980er Jahre eine sehr pragmatische Antwort: „Nicht weil die Elektronen Bausteine wären, sind wir dazu berechtigt, von ihrer Wirklichkeit zu sprechen, sondern weil wir wissen, dass sie ganz bestimmte Kausalkräfte aufweisen.” schreibt Hacking, und noch pointierter, ebenfalls bezogen auf Elektronen: „Wenn man sie versprühen kann, sind sie real”
Hacking rechtfertigt also seine Ansicht, dass Elektronen existieren, damit, dass er die offensichtliche Möglichkeit aufzeigt, dass man mit Elektronen etwas machen kann, dass man ihre kausalen Kräfte dazu nutzen kann, um experimentell in die Welt einzugreifen. Wir behaupten Existenz oder gehen davon aus, dass die Gegenstände der Wissenschaften wirklich existieren, weil wir mit ihnen auf dieser Basis handelnd in die Welt eingreifen können. „Die Wirklichkeit steht in Verbindung mit der Kausalität, und unsere Realitätsvorstellungen werden aufgrund unserer Fähigkeiten zur Weltveränderung gebildet.”
Der Erläuterung und Begründung dieses Standpunktes ist der zweite Teil von Hackings „Einführung” gewidmet, in dem er einerseits anhand einer Fülle von Beispielen ein Bild des tatsächlichen Wissenschaftsbetriebes skizziert ohne dabei in eine Wissenschaftssoziologie abzugleiten und andererseits den Unterschied seines Standpunktes zu anderen, auch realistischen, Ansätzen in der Wissenschaftstheorie erläutert.
Besonders interessant für die Fragestellung der Bedeutung von „Existenz” ist dabei das Kapitel über „Mikroskope”. Zunächst könnte man hier meinen, dass Hacking einer anti-realistischen Argumentation folgt, indem er zeigt, dass unsere Vorstellung falsch ist, wir würden durch das Mikroskop sehr kleine Gegenstände einfach sehen können und die Plausibilität der Existenz dieser Gegenstände ergäbe sich aus der Kontinuität des Sehens mit unbewaffneten Auge, mit immer stärkeren Lupen, mit einfachen und komplizierteren Lichtmikroskopen und schließlich mit Elektronenmikroskopen. Er beschreibt, dass schon Lichtmikroskope anders funktionieren als die meisten von uns glauben und dass wir auch durch sie nicht selbstverständlich etwas sehen können.
Wie aber lernen wir nach Hacking das Sehen durch Mikroskope? „Nicht durch bloßes Hinschauen, sondern durch aktives Handeln lernt man etwas durch ein Mikroskop sehen.” Hacking beschreibt z.B., dass man sich davon überzeugt, dass ein Zellkern wirklich existiert, indem man ihm mit einer selbst verfertigten Nadel Flüssigkeit injiziert und diesen Vorgang, dieses eigene Handeln im Mikroskop beobachtet. Im Abschnitt „Das Gitterargument” erläutert er, wie unter Verwendung fotografischer und anderer technischer Verfahren Gitter zum Wiedererkennen dichter Körperchen hergestellt werden. „Ich weiß, dass das, was ich durch das Mikroskop sehe, der Wahrheit entspricht, weil wir das Gitter eben diesen Angaben entsprechend hergestellt haben.”
Es ist die Kombination aus verschiedenen praktischen Tätigkeiten und Verfahren, die miteinander nicht verbunden sind und die aber immer wieder zu gleichen, sich gegenseitig stützenden Ergebnissen führt, die uns von der Existenz dessen, was wir mit Hilfe des Mikroskops beobachten, führt. Dazu ist es nach Hacking am allerwenigsten notwendig, dass wir über eine Theorie des Mikroskops verfügen, wir müssen nicht wissen, wie es funktioniert, um mit ihm etwas beobachten zu können, auch nicht, dass wir eine Theorie von dem besitzen, was wir möglicherweise im Mikroskop zu sehen erwarten, wichtig ist vor allem, dass wir durch unsere Tätigkeit gelernt haben uns in dem, was wir da sehen, zurechtzufinden.
Mit Blick auf die Beobachtung lebender Zellen schreibt Hacking: „Was uns überzeugt, ist nicht eine leistungsstarke deduktive Theorie der Zellen – eine solche Theorie gibt es gar nicht – sondern es ist eine Vielzahl ineinandergreifender Generalisierungen auf niedriger Ebene, durch die wir die Möglichkeit erhalten, Phänomene im Mikroskop zu steuern und hervorzurufen. Kurz, wir lernen, uns in der mikroskopischen Welt zurechtzufinden.”
Eine wichtige Kategorie dieser Tätigkeiten ist nach Hacking die „Erzeugung der Phänomene”. Damit meint er, dass der Wissenschaftler die Effekte oder Phänomene, von denen seine Untersuchungen handeln, im Experiment überhaupt erst erzeugt. Für Hacking ist dies von besonderer Bedeutung da er damit zeigen kann, dass das Experiment sehr häufig den Theorien vorausgeht, und dass der experimentell tätige Forscher, indem er regelmäßige Prozesse erkennt und im Labor reproduzierbar macht, dem Theoretiker erst die Grundlage liefert, auf der dieser seine Theorien entwickeln kann.
Er meint, „dass der Hall-Effekt unabhängig von einer bestimmten Art von Apparatur gar nicht existiert. Sein modernes Äquivalent ist eine technische Angelegenheit, die zuverlässig und routinemäßig produziert wird. Zumindest in seinem reinen Zustand kann der Effekt nur durch solche Vorrichtungen greifbare Realität werden.” „Vor zwanzig Jahren gab es im Universum weder Laser noch Maser. … Heute hingegen enthält das Universum zehntausende von Lasern …”
Man könnte zunächst meinen, dass Hacking hier die Existenz von materiellen Dingen behauptet, die unter bestimmten bekannten und reproduzierbaren Bedingungen ein bestimmtes Verhalten zeigen. Welche „Dinge” zeigen hier ihr Verhalten? Sind es die synchron schwingenden Atome im Laser oder ist es die ganze Apparatur? Die Atome hat es schon vor den Effekten gegeben. Wenn Hacking sagt, den Effekt gab es noch nicht, bevor die Experimentatoren die Apparaturen gebaut hatten, in denen die schwingenden Atome (als zielgerichtet platzierte Teile der Apparatur) das entsprechende Verhalten zeigen, dann spricht er von der Existenz eines Komplexes, der aus materiellen Dingen und sichergestellten Bedingungen, unter denen diese Atome sich verhalten, besteht.
Das „sind Instrumente, Werkzeuge, die nicht dem Denken sondern dem Tun dienen” – und gerade die Effekte sind es ja, die der Experimentator sich nutzbar macht, um weitere Experimente aufzubauen und neue Effekte hervorzubringen, man denke nur an die optischen Experimente mit Hilfe von Laserstrahlen. Hacking spricht in diesem Zusammenhang von „experimentellen Entitäten” oder „Entitäten des Experimentators”. Diese Entitäten zeichnen sich dadurch aus, dass ihre kausalen Eigenschaften dem Experimentator so gut bekannt sind, dass er sie im Versuch einsetzen kann, um präzise bestimmte Wirkungen zu erzielen. „Sobald wir imstande sind, das Elektron in systematischer Weise zur Beeinflussung anderer Bereiche der Natur zu benutzen, hat das Elektron aufgehört, etwas hypothetisches, etwas erschlossenes zu sein. Es hat aufgehört, etwas Theoretisches zu sein, und ist etwas Experimentelles geworden.”
Hacking begründet seinen Entitäten-Realismus also damit, dass es dem Wissenschaftler möglich ist, durch die erkannten kausalen Kräfte der Entitäten diese wiederum im Experiment einzusetzen um neue Effekte zu produzieren. Das heißt also, die Tatsache, dass die Phänomene durch den Experimentator erst geschaffen werden ist gleichzeitig der Nachweis für die Existenz der nicht direkt beobachtbaren Objekte, auf deren Basis die Theorien die Beobachtungen erklären.
Sein Entitäten-Realismus ist also ein ganz pragmatischer: Wenn der Experimentator die nicht beobachtbaren Objekte verwenden kann, um Effekte zu produzieren, dann wird in dieser Handlung offenbar die Existenz der Entität, die da benutzt wird, vorausgesetzt – und sie kann in allen wissenschaftlichen Handlungen und theoretischen Überlegungen, die auf dieser Nutzung aufbauen, auch nicht mehr geleugnet werden.
Problematisch kann diese pragmatische Rechtfertigung von Existenzbehauptungen über theoretische Entitäten jedoch dann werden, wenn diese Entitäten nicht in Experimenten aktiv eingesetzt werden können, um Effekte zu produzieren. Wenn man mit Hacking bei einer handlungsorientierten Rechtfertigung von Existenzbehauptungen stehen bleibt, schließt man das weite Feld all der Wissenschaften von der Betrachtung aus, die ihre empirische Basis ausschließlich oder vorwiegend aus reiner Beobachtung ziehen – von der Ökonomie über die Klimaforschung und die Evolutionsbiologie bis hin zur Kosmologie.
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