Ein junger Mann sieht eine Frau erröten und zu Boden schauen, wenn er mit ihr über Alltägliches spricht. Da ihm das bei dieser Frau des Öfteren passiert, während andere Frauen auf seine Worte nicht in gleicher Weise reagieren, erzählt er einem Freund: „Ich habe die Theorie, dass sie mich liebt.”

Wird der Begriff „Theorie” in dieser Alltagssituation tatsächlich so viel anders verwendet als in der Wissenschaft, so wie es auf jener anonymen Web-Seite, auf die sich bloggende Wissenschaftler gern beziehen, behauptet wird?

Wie kam der Mann zu seiner Theorie? Zunächst war da die Beobachtung einer Regelmäßigkeit: Immer wenn er mit der Frau sprach, errötete diese und schaute zu Boden. Eine solche regelmäßige Beobachtung würde ein Wissenschaftler, wenn sie sehr häufig gemacht wird und es keine Ausnahmen gibt, als Gesetz bezeichnen. Vielleicht täten sie das auch, wenn es Ausnahmen gäbe und man diese Ausnahmen aber erklären könnte, aber das ist eine andere Geschichte, die zwar nicht unwichtig ist, den fall hier aber zu kompliziert machen würde.

Neben diesem Beobachtungsgesetz hat der junge Mann eine allgemeine These. Die könnte lauten: „Alle Frauen, die mich lieben, erröten, wenn sie mit mir sprechen.” Aus dieser Grundthese würde der Kerl vielleicht folgern, dass, die Frau ihn liebt – weil sie ja errötet.

Wäre das dann eine Theorie, im wissenschaftlichen Sinne? Aus zwei Gründen ist das nicht der Fall. Einerseits haben die Logiker unter den Lesern natürlich schon bemerkt, dass der Schluss, den der selbstbewusste Mann da zieht, nicht hinreichend ist. Er ist nicht deduktiv, sondern allenfalls abduktiv. Innerhalb von Theorien darf aber nur deduktiv geschlossen werden, damit sich die Schlussfolgerungen zwingend notwendig aus den Grundannahmen ergeben.

Da unser Held ein guter Logiker ist, stellt er die Prämisse seines Schlusses so um, dass aus der Abduktion eine Deduktion wird: „Frauen erröten in Gesprächen nur, wenn sie mich lieben.” Damit betritt er tatsächlich das weite Gebiet dessen, was auch in den Wissenschaften als Theorie bezeichnet wird: Er hat eine allgemeine Grundthese aus der er deduktiv etwas schlussfolgern kann, was Beobachtungen erklärt.

Die Theorie ist sogar falsifizierbar: Wir müssen nur eine Frau finden, die zwar errötet, wenn sie auf unseren Theoretiker trifft, aber dann zu Protokoll gibt, dass sie ihn nicht liebt. (Auch hier könnten wir eine andere Geschichte anschließen, die ein andermal erzählt werden soll, nämlich die von der ad-hoc-Hypothese, mit der unser Mann seine Theorie rettet.)

Wir bemerken zunächst, dass der Begriff Theorie hier still und heimlich tatsächlich schon eine Bedeutungsverschiebung erfahren hat: Betraf er am Anfang die einzelne errötende Frau, so ist er jetzt zur Bezeichnung eines allgemeinen Satzsystems geworden, aus dem heraus das konkrete einzelne Verhalten erklärt wird.

Wenn im Alltag von Theorien gesprochen wird, dann geht es ebenso wie in der wissenschaftlichen Verwendung des Wortes darum, ein System von allgemeinen Aussagen zu bezeichnen, mit dem man konkrete Beobachtungen durch logisch zwingendes Schließen erklären kann.

Wissenschaftler wären allerdings kaum bereit, diese Theorie als wissenschaftlich zu akzeptieren. Die Theorie des Mannes, selbst wenn sie richtig ist, erklärt nur sehr wenig, sie hat ein äußerst kleines Anwendungsfeld. Genau genommen ist sie zwar eine Theorie, aber wissenschaftlich völlig uninteressant – da sie nicht auf entfernte Anwendungsfälle anwendbar ist, z.B. auf andere Männer. Dazu müsste man die Grundannahme erweitern: „Alle Frauen erröten beim Anblick eines beliebigen Mannes nur, wenn sie diesen lieben.” Dann hätten wir wenigstens schon mal eine Theorie, die auch nach dem Tode ihres Erfinders (oder Entdeckers – auch das ist eine andere Geschichte) grundsätzlich überprüfbar ist.

Aber die Theorie ist immer noch uninteressant, ganz davon abgesehen, dass sie nun ziemlich schnell durch Gegenbeispiele, für die kaum nach ad-hoc-Hypothesen gefunden werden können, widerlegt würde. Der wichtigere Punkt ist, dass sie nur sehr wenig erklärt – und dass sie insbesondere keine Vorhersagen erlaubt, die nicht trivial sind.

Um die Theorie interessanter zu machen, muss sie erweitert werden – das, was in der im Moment eine Grundannahme ist, muss selbst durch andere, allgemeinere Grundannahmen ersetzt werden. Aus der Grundannahme, dem Hauptsatz, dem Axiom, wird ein Gesetz, das selbst durch andere Axiome erklärt wird.

Die Frage, was ein Gesetz ist, welches durch eine Theorie und durch logisches Schließen aus der Theorie erklärt werden kann, und was Grundannahme der Theorie ist, hängt also immer von der Gestaltung des Satzsystems ab, von der Ausbaustufe der Theorie, wie sie gerade vorliegt.

Wie die Theorie genau aussehen würde, aus der unser Held ableiten kann, dass die Frau, die da bei seinem Anblick errötet, ihn wirklich liebt, bleibt dem Leser überlassen. Damit sie als wissenschaftlich gelten kann, sollte sie folgende Bedingungen erfüllen:

Sie sollte möglichst viele Regelmäßigkeiten des Anwendungsbereiches erklären: z.B. alle Farbveränderungen (wenigstens erbleichen und erröten) bei Menschen im Zusammenhang mit bestimmten Ereignissen). Nur ein einziges Phänomen in einer einzigen Situation ist zu wenig.

Sie sollte Vorhersagen über solches Verhalten in noch nicht beobachteten Situationen zulassen, also deduktive Ableitungen für Bedingungen, die noch gar nicht beobachtet wurden – was z.B. passiert, wenn Frauen einem Mann in einer bisher noch nicht aufgetretenen Situation begegnen, die man aber herstellen kann – z.B. als Torhüterin in einem Fußballspiel, bei der der Mann der gegnerische Stürmer ist?

Man sieht: die Verwendung des Theorie-Begriffs in der Alltagswelt unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der Verwendung in der Wissenschaft – der Unterschied ist nur graduell, nicht prinzipiell. Theorie – das ist ein vager Begriff.

Gleichzeitig hat sich herausgestellt, dass die Abgrenzung von Gesetz und Theorie nicht so einfach ist, wie es in notjustatheory.com behauptet wird: Sätze über Regelmäßigkeiten sind in einer Theorie manchmal Gesetze, die erklärt werden, manchmal Grundgesetze, Theoreme, Hauptsätze – die erklären.

Nun könnte man natürlich noch fragen, wie man Sätze mit Sätzen erklären kann – aber auch das ist eine andere Geschichte, die ein andermal erzählt werden soll (Wissenschaftsphilosophie ist eben auch eine „Unendliche Geschichte”)

Kommentare (4)

  1. #1 Althir
    Juni 4, 2009

    Ich bin mit Ihrer Aussage

    Man sieht: die Verwendung des Theorie-Begriffs in der Alltagswelt unterscheidet sich nicht grundsätzlich von der Verwendung in der Wissenschaft – der Unterschied ist nur graduell, nicht prinzipiell.

    nicht ganz einverstanden. Sie scheint mir zu stark. Ich würde eher dahin tendieren, dass es möglich ist, dass sich der Theoriebegriff nur graduell unterscheidet. Meistens jedoch das Wort “Theorie” etwas anderes (Gesetz, These aus Ihrem Beispiel oder nur Behauptung) beschreibt. Ich meine damit, dass die gedankliche Leistung, die “der Held” Ihres Beispiels unternimmt, von den meisten Personen nicht erbracht wird.

    Für den Zweck, jemandem (der sagt: “Ich habe die Theorie, dass …) zu zeigen, dass seine Behauptung noch keine Theorie ist, sondern der Begriff viel mehr Anforderungen beinhaltet, ist das Beispiel meiner Meinung nach trotzdem gut geeignet.

    Einfache Erklärungen sind immer problematisch:

    Explanations exist; they have existed for all time; there is always a well-known solution to every human problem — neat, plausible, and wrong.
    H. L. Mencken

  2. #2 beebeeo
    Juni 4, 2009

    Ich finde man muss hier zwischen Theorie und Hypothese unterscheiden. Wissenschaftler (zumindest nach meiner Erfahrung) arbeiten die meiste Zeit an Hypothesen und nur wenn genug experimentelle Beobachtungen zusammen kommen wird von Theorien gesprochen.
    Wenn ich ein Experiment plane und einen bestimmten Ausgang erwarte, dann wuerde ich bei meiner Grundannahme von einer Hypothese sprechen, nicht einer Theorie.

    In der Alltagswelt hingegen wird Theorie oft als Synonym fuer Hypothese benutzt und semantisch weniger differenziert. Ob nun der alltaegliche Gebrauch oder wissenschaftliche richtig oder falsch sind, ist meiner Meinung nach unwichtig.
    Theorie mag zwar ein vager Begriff sein, er wird aber generell im Alltag mit mehr Spielraum verwendet als in der Wissenschaft. Diese beiden Gebrauchsweisen sind vielleicht nicht Grundlegend unterschiedlich, sind aber dennoch leicht unterscheidbar.

  3. #3 Jörg Friedrich
    Juni 5, 2009

    @althir: Ich kann mit ihrer abgeschwächten Formulierung leben. Mir kommt es darauf an, dass wir auch im alltäglichen Leben ständig mit Satz-Systemen operieren, die den Ansprüchen des wissenschftlichen Theoriebegriffs prinzipiell genügen – und dass es da einen fließenden Übergang gibt.

    Trocken und Beispiels-frei zusammengefasst: Um ein Satzsystem in der Wissenschaft als Theorie zu akzeptieren, gibt es “harte” und “weiche” Kriterien. Die harten sind: Es muss einen Kern von zentralen Aussagen geben, aus denen sich per deduktivem Schluss andere Aussagen ableiten lassen, die empirisch überprüfbar sind. Die Kernaussagen müssen All-Aussagen sein, sie müssen sich auf Klassen von Objekten und nicht auf Einzel-Objekte beziehen. Die weichen Kriterien sind: es sollen möglichst wenige Kernaussagen sein, die ableitbaren Beobachtungsaussagen sollen möglichst viele Beobachtungssituationen abdecken.

    Die “harten” Kriterien treffen auch auf ziemlich viele Alltags-Theorien zu, und bei den weichen Aussagen gibt es einen fließenden Übergang, was in der Wissenschaft als Theorie akzeptiert wird.

    @beebeeo: Der Unterschied zwischen Theorie und Hypothese scheint mir vor allem darin zu liegen, dass die erste eine All-Aussage als Kernelement hat, die zweite eine Einzelaussage. Der Begriff der Hypothese scheint mir sehr gut geeignet, um die oben beschriebene Bedeutungs-verschiebung zu erfassen. “Diese Frau liebt mich, denn sie errötet, wenn sie mich sieht” – ist eine Hypothese. “Frauen erröten bedeutet Liebe” das ist eine (mögliche) Kernaussage einer Theorie.

  4. #4 Fips der Affe
    Juni 9, 2009

    @Jörg Friedrich: Auch wenn der Begriff der “Theorie” nicht einheitlich verwendet wird, halte ich nachfolgende Unterscheidungen für angebracht und diese entsprechen weitgehen der Anwendungspraxis im Wissenschaftsbetrieb.

    Der Unterschied zwischen einer Theorie und einer Hypothese besteht vor allem im Grad ihrer Bewährtheit in der Anwendung (Verifikationskriterien) bzw. der Akzeptanz unter Wissenschaftlern. So spricht man von einer Theorie, wenn sie sich gut bewährt hat (z.B. Evolutionstheorie) und von einer Hypothese, wenn sie noch nicht hinreichend bestätigt wurde. Das was sie “Hypothese” nennen (“Diese Frau liebt mich, denn sie errötet, wenn sie mich sieht”) – ist eine These, unabhängig davon ob sie eine Universalaussage (ein All-Satz) oder eine Existenzaussage (Einzel-Aussage) ist. Eine Reihe von Thesen, Axiomen, Ableitungen usw. wird eigentlich unter dem Begriff der „Theorie“ zusammengefasst. In ihrem Beitrag entsteht der Eindruck als würde der Einzelsatz, oder Allsatz eine Theorie sein, dies ist nicht der Fall, oder eine sehr ungebräuchliche Verwendung des Theoriebegriffes.

    mfG