Kein wissenschaftsphilosophischer Standpunkt ist in der heutigen Naturwissenschaft so beliebt wie die „Logik der Forschung” von Karl Popper – die These von der grundsätzlichen Falsifizierbarkeit wissenschaftlicher Theorien wird oft und gern als Beleg dafür gebraucht, dass Wissenschaft nach einer strengen methodischen Regel vorgeht, einer Regel, die den Erfolg und den Fortschritt der Wissenschaften sicher stell – unabhängig von den Fehlern, menschlichen Schwächen, außerwissenschaftlichen Interessen und persönlichen Eitelkeiten der Wissenschaftler.
Der Grund für die Beliebtheit des Popperschen Gedankengebäudes ist naheliegend: Nie zuvor war und nie wieder wurde Philosophie sosehr Wissenschaft wie in Karl Poppers „Logik der Forschung”. Die „Logik der Forschung versucht selbst, wissenschaftlich zu sein oder wenigstens die wissenschaftliche Methode soweit wie möglich zu imitieren. Das gelingt ihr auch sehr gut – und das ist gleichzeitig ihre größte Schwäche.
Der Grundgedanke der Popperschen Wissenschaftstheorie ist folgender: Wissenschaftliche Theorien sind Systeme von Aussagen, unter denen einige wenige gegenüber den anderen ausgezeichnet sind. Diese wenigen sind die Axiome, Basissätze, Hauptsätze der Theorie.
Aus den Hauptsätzen lassen sich deduktiv alle anderen Sätze der Theorie gewinnen. Eine wissenschaftliche Theorie muss dann immer Aussagen über die Wirklichkeit enthalten: Beobachtungssätze. Diese sind letztlich deduktiv aus den Grundaussagen gewonnen und sie lassen sich zumindest grundsätzlich durch Experimente überprüfen.
Popper stellt sich Theorienentwicklung nun wie folgt vor: Zu irgendeinem Zeitpunkt besteht eine Theorie (z.B. die Newtonsche Mechanik) die in einer bestimmten Anwendungsdomäne alle Beobachtungen erklärt – d.h. aus ihren Grundtheoremen lassen sich alle Beobachtungssätze ableiten, die auch in Experimenten gewonnen werden können.
Die Theorie soll aber nicht nur die bereits durchgeführten Experimente erklären, sondern es soll möglich sein, aus der Theorie neue Experimentieranordnungen zu gewinnen. Die Theorie – so stellte sich Popper die Wissenschaft vor, erzeugt Aufgaben für die Experimentatoren, die dann quasi als Erfüllungsgehilfen der Theoretiker versuchen, die gewünschten Experimente durchzuführen und gegebenenfalls die Theorie zu bestätigen oder eben zu falsifizieren.
Auf irgendeine (durch Popper nicht erklärte) Weise kommt nun ein Wissenschaftler auf die Idee, eine neue Theorie zu entwickeln die dann die falsifizierte Theorie ersetzt, weil sie auch die neuen experimentellen Befunde zu erklären vermag und wieder neue Vorhersagen für neue Experimente macht, die dann wieder durch die fleißigen Experimentatoren überprüft werden.
Das ist eine schöne Theorie, sie ist in sich schlüssig, sie ist logisch – und sie ist natürlich falsifizierbar. Man braucht nur einen Fall einer wissenschaftlichen Theorie zu finden, in dem trotz Falsifizierung an der Theorie festgehalten wurde und schon hat man Popper selbst falsifiziert und könnte seine ganze „Logik der Forschung” zum Altpapier geben.
Ich werde hier nicht all die schönen Beispiele und Belege dafür aufführen, dass fast jede wissenschaftliche Theorie seit Newton bereit bei ihrer Veröffentlichung falsifiziert war – ich möchte nicht als Relativitätsleugner und Kreationist beschimpft werden. Wer sich für solche Belege interessiert, dem sei zum Einstieg Paul Feyerabends Aufsatz „Von der beschränkten Gültigkeit methodologischer Regeln” (in: Paul Feyerabend: Der wissenschaftstheoretische Realismus und die Autorität der Wissenschaften. Braunschweig 1977) empfohlen, in dem man in über 100 Fußnoten Verweise auf Studien weiterer Autoren findet.
Poppers „Logik der Forschung” befindet sich also in einer amüsanten Situation: Sie gibt die Regeln vor, nach denen sie selbst zu falsifizieren ist – und sie ist falsifiziert. Eine besonders subtile Variante des Lügen-Paradox: Wenn sie wahr ist, ist sie falsch.
Man könnte diese Schwierigkeit umgehen, indem man Poppers Theorie nicht deskriptiv, sondern normativ auffasst: Die Logik der Forschung beschreibt die Welt der Wissenschaft nicht, wie sie ist, sondern wie sie sein sollte. Das würde allerdings bedeuten, dass die wirkliche Wissenschaft von ihrem Ideal, methodisch sauber nach den strengen methodischen Regeln Popperscher Prägung vorzugehen, weit entfernt ist. Und die Frage ist ja auch, ob die Wissenschaft eine bessere wäre, wenn sie dem Popperschen Ideal genügen würde.
Wahrscheinlich ist das nicht der Fall: In einer Wissenschaft, die dem strengen Popperschen Ideal genügen würde, würden kaum spannende neue Ideen entstehen. Jeder Wissenschaftler, der eine neue Theorie entwickelt, würde vor den offensichtlichen empirischen Befunden, die bereits bei der Theorie-Entwicklung seinen Ideen widersprechen, zurückschrecken.
Theorien werden nicht entwickelt und setzen sich nicht durch, weil sie richtig sind, weil sie die empirischen Befunde richtig beschreiben und neue vorhersagen, sondern weil sie praktikabel sind, weil sie wenigstens einen Teil der komplexen Wirklichkeit so beschreiben, dass man halbwegs zurechtkommt. So ist es ja auch mit Poppers „Logik der Forschung” – es gibt zwar viele konkrete Fälle, die ihr widersprechen (und solche Fälle waren auch schon zu der Zeit bekannt, als Popper sein Buch schrieb) – aber seine Theorie ist doch ein guter Leitfaden, an dem entlang man Wissenschaft verstehen kann, in ihrer Übereinstimmung mit Popper und in den Abweichungen.
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