In seinem Buch “Die Hoffnung der Pandora” greift der Wissenschaftsforscher Bruno Latour die Legende des Göttergeschenkes auf, jener Büchse, deren Öffnung so viele “Plagen und Flüche, Sünden und Übel” über die Menschen gebracht hat. Er und die anderen Wissenschaftsforscher, das gesteht Latour, haben die Büchse geöffnet, als sie die Wissenschaft selbst zu ihrem Gegenstand gemacht haben, als sie begannen, in Feldstudien und theoretischen Überlegungen die Mechanismen der Wissenschaft zu untersuchen um zu verstehen, was Wissenschaft ist.
Wie ist das möglich? Wer Wissenschaft zum Gegenstand seiner Studien macht, ist doch kein Feind der Wissenschaft, der mit Beginn seiner Untersuchungen einen Kampf, eine Auseinandersetzung beginnt? Erstaunlicherweise ist die Deutung der Arbeit der Wissenschaftsforscher als Kampf gegen die Wissenschaft einmalig: Keinem Politikforscher wird eine Feindschaft zu Politikern, keinem Kulturwissenschaftler ein Kampf gegen die Kultur unterstellt, niemand käme auf die Idee, einem Soziologen, der sich z.B. mit dem Verhalten von Jugendlichen befasst, eine Abneigung gegen Jugendliche zu unterstellen.
Latour beschreibt die unverständliche Ablehnung, die ihm von wissenschaftlicher Seite entgegenschlug: „Dass wir einen Gegenstand untersuchen, bedeutet nicht, dass wir ihn attackieren. Sind Biologen gegen das Leben, Astronomen gegen die Sterne, Immunologen gegen Antikörper? … Wenn Wissenschaftler, so dachte ich naiv, wirklich einen treuen Verbündeten haben, sind wir es, die Wissenschaftsforscher”.
Natürlich: Wer einen Gegenstand erforscht, erhält vielleicht (man kann sogar sagen: hoffentlich) überraschende Ergebnisse. Und gerade wenn der Gegenstand sich aus Handlungen von Menschen konstituiert ist es nicht unwahrscheinlich, dass die Forschung eine neue Sicht auf eben diese Handlungen hervorbringt, dass auch diese Menschen, deren handeln da untersucht wird, mit unerwarteten Erkenntnissen konfrontiert werden.
Wissenschaftlern geht es da nicht anders als Politikern oder Künstlern. Im besten Falle greifen sie die Erkenntnisse der Wissenschaftsforscher auf, nehmen sie zum Anlass, um ihre bisherige Sicht auf das eigene Tun zu überdenken und möglicherweise Anregungen für das eigene Arbeiten zu erhalten.
Dass Wissenschaftler auf Wissenschaftsforschung anders reagieren als Künstler auf Forschungen über Kunst oder Politiker über Politikforschung könnte selbst ein Gegenstand der Wissenschaftsforschung sein. Vielleicht liegt es daran, dass die Wissenschaftsforscher ja quasi Kollegen sind und dass daraus der Eindruck entsteht, dass sich hier eine Disziplin sozusagen ein Urteil über die anderen anmaßt. Aber das hat mit einem gelassenen Verständnis von Forschung nichts zu tun: Kein Biologe urteilt über die Lebensformen, die er untersucht, und das gleiche gilt für die Kunst- und die Politikforschung.
Wissenschaftsforschern wird oft vorgeworfen, sie würden sich gar nicht der wissenschaftlichen Methoden und Standards bedienen, und das wäre das eigentliche Problem. Wenn man sich die vielen wissenschaftssoziologischen und wissenschaftshistorischen Fallstudien ansieht, die die Wissenschaftsforscher allein in den letzten 30 Jahren erstellt haben, scheint dieser Vorwurf zunächst merkwürdig. Aber er deutet auf ein wirkliches methodisches Problem hin: Wer verstehen will, wie praktisches menschliches Verhalten in Kategorien wie „wissenschaftliche Theorie”, „Experiment”, „Hypothese” eingeordnet wird, wer den Inhalt dieser Kategorien und ihre Zusammenhänge erst aufzeigen will, kann sich ja gerade dieser Kategorien und der damit zusammenhängenden Methoden nicht von Beginn an sicher sein. Dass, was dem Wissenschaftler selbstverständlich ist, ist der Forschungsgegenstand – und dieser kann nicht mit den selbstverständlichen Begriffen erfasst und beschrieben werden, die gerade untersucht werden. So können sich die Methoden der Wissenschaftsforschung quasi erst im Zuge der Forschungen bilden – sie sind nicht vorab klar. Erst wenn die Wissenschaftsforschung einen Begriff von Wissenschaftlichkeit gewonnen hat, kann sie prüfen, ob die eigene Arbeit mit dieser Kategorie erfasst werden kann. Selbstkritik der Methoden – gerade Latours Texte zeigen das immer wieder – ist deshalb fester Bestandteil der Wissenschaftsforschung.
Vielleicht ist es auch deshalb ganz selbstverständlich, dass Wissenschaftler die Studien der Wissenschaftsforscher missverstehen und als Angriff auf ihre Arbeit auffassen. Das ist schade, weil die Ergebnisse und Theorien, die da entstehen, ja wie gesagt nicht als Bewertung sondern als sachliche Beschreibung angelegt sind. Latours Nachweis, dass wissenschaftliche Fakten konstruiert werden z.B. behauptet ja nicht, dass diese Arbeit der Fakten-Konstruktion in irgendeiner Weise etwas Schlechtes ist – im Gegenteil – sie gehört zu den Grundbestandteilen erfolgreichen wissenschaftlichen Arbeitens.
Deshalb wäre es auch unsinnig darüber zu sinnieren ob es nicht besser gewesen wäre, die „Büchse der Pandora”, die die Wissenschaftsforschung geöffnet hat, verschlossen zu lassen. Diese Frage müsste sich dann jegliche Forschung gefallen lassen – jede Forschung gleicht dem Öffnen dieser Büchse. Vielmehr sollte man sich an das Ende des Mythos von Pandora erinnern: Auf dem Boden des Gefäßes ist die Hoffnung, die beim erneuten Öffnen in die Welt kommt.
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