Die Erfolgsgeschichten von Wilhelm Conrad Röntgen, Marie Curie und anderen Forschern des frühen 20. Jahrhunderts müssen für heutige Physiker wie ferne Sagen aus einem goldenen Zeitalter klingen. Vielleicht erzählt man sie sich gegenseitig in den Kneipen von Genf, beim Warten auf das Anfahren des LHC, das sich nun wiederum um Monate verzögert. Vielleicht raunt man sich auch bei ITER, wo mit immer neuen Schwierigkeiten gekämpft wird und die beherrschte Kernfusion immer weiter in die Ferne rückt, einander sehnsuchtsvolle Geschichten aus den Frühzeiten der Kerntechnik zu.
Die physikalisch-technische Großforschung scheint in einer Sackgasse zu stecken. Die Anlagen werden immer gewaltiger, die Systeme immer komplexer. Überwachungsgeräte überwachen Überwachungsgeräte die die Funktion von Sensoren und Sicherungsmechanismen kontrollieren. So soll die Komplexität moderner Versuchsanordnungen beherrschbar werden. Aber es wird nur die Zahl der voneinander abhängigen Komponenten erhöht. Die Möglichkeiten, dass Fehler und Ungenauigkeiten auftreten, vervielfachen sich.
Man fühlt sich an ein altes Gedicht von Volker Braun erinnert, der in den 1970er Jahren “Vom Besteigen hoher Berge” [1] schrieb:
Jetzt sind wir höher als die Baumgrenze geklommen
Aber der Wald hat zugenommen.
Jetzt haben wird das Lager errichtet
Unter dem Gipfel: den keiner mehr sichtet
Die Sicherheit der Prozesse soll gewährleistet werden, aber dabei erhöht sich nur die Unsicherheit über die Frage, ob es auf diese Weise überhaupt je möglich ist, kontrollierbare Abläufe in Gang zu setzen. Vielleicht zeigt der Großbeschleuniger bei Genf niemals einen Ursprung von irgendwas, sondern vielmehr eine Grenze: die Grenze dessen, was für den Menschen technologisch beherrschbar ist.
Die Wissenschaft würde das verschmerzen können. Es gibt so viele unerforschte Phänomene in der Biologie, der Ökologie, der Ökonomie, der Soziologie und anderen Disziplinen dass sich wissbegierige Studenten und junge Forscher ganz sicher keine Sorgen machen müssen: Die Zahl der zu lösenden und lösbaren Rätsel wird nicht kleiner werden.
Für die Physik in ihrer heutigen Form als exakte und auf Technik gestützte Wissenschaft wären die Folgen des Scheiterns ihrer Großprojekte allerdings gravierend. Sie müsste gewisse Fragen, die sie seit Jahren im Fokus hat, auf Dauer als unlösbar zu den Akten legen. Das wäre eine völlig neue Situation in der Geschichte der Wissenschaften. Ein radikaler Paradigmenwechsel wäre notwendig, ein Kapitel der Wissenschaftsgeschichte ginge zu Ende, das mit Galilei und Newton begann.
Volker Braun fragte in seinem Gedicht:
Müssen wir nicht längst umkehren
Und von unsern Posten herabfahren.
Und uns aus den Sicherungen schnüren
Denn dieser Weg wird nicht zum Ziel führen.
Doch damit würde die Physik auch ihre Funktion als Leit-Wissenschaft ein für alle mal verlieren, ihrer Methode des kontrollierten Re-Produzierens von Phänomenen und des exakten Messens mithilfe technischer Apparaturen wäre eine Grenze gesetzt – das würde diesem Arbeiten die Funktion des Idealbildes von Wissenschaft überhaupt rauben.
Vielleicht läuft ja der große Beschleuniger am Genfer See im November. Vielleicht ist die Grenze der Beherrschbarkeit noch nicht erreicht. Vielleicht deuten sich aber in den Verzögerungen beim LHC Umwälzungen an, die die Wissenschaften grundlegend erschüttern werden. Noch einmal Volker Braun:
Tappen ins Ungewisse, aus dem wir aufgestiegen waren.
Die Reibung unser einziger Halt.
Tagelang arbeiten, um einen Zoll zurückzugehn
Verschwinden, um zu bestehn.
Und den Gipfel in wieder erreichbarer Ferne zu sehn.
[1] In Brauns Gedicht, entstanden in der DDR der frühen Honecker-Zeit, ging es freilich nicht um Wissenschaft, schon gar nicht um Physik.
Kommentare (27)