Niemand weiß, wie viele kluge revolutionäre Ideen im Peer-Review-Verfahren der Journale ausgesiebt werden und nie das Licht der wissenschaftlichen Öffentlichkeit erblicken. Es liegt in der Natur der Sache, dass man darüber nur spekulieren kann. Wenn über Fälle berichtet wird, in denen es nach langem Kampf doch gelungen ist, ein neues Modell oder ein überraschendes Konzept in einer Zeitschrift zu platzieren wird klar, dass der Wissenschaftsprozess strukturelle Probleme hat, die es Forschern mit neuen Ideen schwer machen, sich Gehör zu verschaffen.
Emma Marris hat für nature jetzt einen solchen Fall recherchiert (Ragamuffin Earth. nature 460, 23.07.2009, Seite 450-453). Sie berichtet von Ariel Lugo, einem Ökologen aus Puerto Rico, der 1979 auf eine überraschende Artenvielfalt in Ökosystemen aufmerksam wurde, die durch den Menschen beeinflusst und später wieder sich selbst überlassen wurden. Die vorherrschende Meinung der Ökologen war es zu jener Zeit, dass solche Ökosysteme gegenüber natürlichen Ökosystemen eine wesentlich geringere Biodiversität aufweisen müssten. In natürlichen Ökosystemen, so die zentrale Annahme der Ökologen, hat die jahrtausendelang wirkende Evolution dazu geführt, dass nahezu jede ökologische Nische gefüllt ist und dass die verfügbare Energie auf effizienteste Weise umgewandelt wird. Im Gegensatz zu diesem Paradigma fand Lugo, dass bestimmte Plantagen, die sich selbst überlassen werden, nach einer gewissen Zeit hinsichtlich Biomasse, Artenvielfalt und Nährstoff-Effizienz besser dastehen als natürlich gewachsene Ökosysteme.
Reviewer arbeiten oft nach dem Prinzip, dass nicht sein kann was nicht sein darf.
Anfang der 1980er Jahre versuchte er, seine Ergebnisse zu veröffentlichen. Aber es dauerte rund zehn Jahre bis er seinen Artikel durch den Peer-Review-Prozess gebracht hatte (A. Lugo: Ecol. Monogr. 62, pp 2-41, 1992). Es dauerte noch rund 15 Jahre, bis 2006, dass ein Grundsatzartikel von 17 Wissenschaftlern unter dem Titel „Novel Ecosystems. Theoretical and management aspects of the new ecological world order” (Hobbs R.J. et al. Global Ecol. Biogeogr. 15, pp 1-7, 2006) veröffentlicht werden konnte. Und immer noch war die Ablehnung der Idee von den „Neuen Ökosystemen” unter den Forschern groß, wie zitierte Kommentare von Reviewern zeigen.
Man fragt sich zunächst, wie so etwas in einem Wissenschaftsbetrieb, in dem doch nur rationale Argumente und überprüfbare empirische Fakten zählen, möglich ist. Offenbar haben die Reviewer Lugos Arbeit eher nach dem Prinzip „dass nicht sein kann was nicht sein darf” beurteilt. Das ist ganz menschlich, lieb gewordene Überzeugungen gibt keiner gerne auf. Und man darf natürlich nicht vergessen, dass die Ökologie weit vom Ideal der interessenfreien Forschung entfernt ist. Wie auch die Klimatologie ist sie eng mit politischen Entscheidungsprozessen verwoben, Ökologen geben Empfehlungen zur Renaturierung von ehemals industriell oder landwirtschaftlich genutzten Flächen, setzen Normen für guten Natur- und Umweltschutz. Da fällt das Eingestehen von Irrtümern und wissenschaftlichen Sackgassen schwer.
Aber 25 Jahre sind für den Umgang mit der Natur, die durch Industrie und intensive Landwirtschaft seit rund 150 Jahren geschädigt wird, eine lange Zeit. Wenn weltweit die knappen Mittel für die Erhaltung der Artenvielfalt über ein viertel Jahrhundert ineffizient eingesetzt werden weil Wissenschaftler nicht in der Lage sind, vorurteilsfrei über neue Erkenntnisse nachzudenken und ehrlich Irrtümer aus der Vergangenheit einzugestehen, dann müssen sie sich kritische Fragen gefallen lassen.
Zu diesen Fragen gehört die nach der Qualität und Effektivität des Peer-Review-Systems. Da inzwischen die Online-Publikation neuer Erkenntnisse auf schnellerem und kostengünstigerem Wege als über die die klassischen Zeitschriften möglich ist, müssen Wissenschaftler und wissenschaftliche Institutionen offensiv und zügig nach neuen Wegen der Qualitätssicherung suchen, damit solche Geschichten wie die von Ariel Lugo in Zukunft nicht mehr möglich sind.
Kommentare (30)