Wenn von Leuten, die sonst rational und freundlich miteinander diskutieren, plötzlich unversönliche Kommentarschlachten geschlagen werden, wie bei den ScienceBlogs zum Thema Atheismus und Religion, dann drängt sich der Verdacht auf, dass die Diskussion vielleicht nur an der Oberfläche der Phänomene geführt wird, und dass es in diesen Diskussionen vielleicht nicht gelingt, den Phänomenen wirklich auf den Grund zu gehen.
Vielleicht ist es in einer solchen Situation sinnvoll, sich bei einem Denker Rat zu holen, der das Freilegen von Verschüttetem und Verstelltem, zu seiner Lebensaufgabe gemacht hat. Martin Heidegger, auf dessen erstes Hauptwerk „Sein und Zeit” ich hier Bezug nehme, hat versucht, den Blick auf das Dasein der Menschen von Verstellungen und Verschüttungen zu befreien und die Grundelemente dieses Daseins zu bestimmen.
Ich und die Anderen
Heidegger zeigt im §26 von „Sein und Zeit”, dass sich dem einzelnen Menschen das eigene Dasein immer in Bezug auf das Dasein Anderer erschließt [1]. Jeder einzelne nimmt zunächst und zumeist sogar nicht sich selbst sondern die Anderen wahr. Das eigene Leben zeigt sich im Leben der Anderen und es wird mit Bezug auf das Leben der anderen verstanden. Jeder ordnet sich in die so konstituierte Umwelt ein, versteht sich darüber, wie er die anderen versteht.
Wesentlicher Bestandteil dieses Verständnisses ist der Umgang der Menschen miteinander in der Praxis der Bewältigung des Alltags. Dem einzelnen erschließt sich der Andere (und damit auch das eigene Dasein) in der Art, wie diese für das eigene Dasein und das der Mitmenschen sorgen, wie sie umeinander besorgt sind (oder eben auch, wie sie sich einander gleichgültig sind).
“Zwischen den beiden Extremen der positiven Fürsorge – der einspringend-beherrschenden und der vorspringend-befreienden – hält sich das alltägliche Miteinandersein”
Diese Fürsorge kann sich laut Heidegger auf zwei verschiedene Weisen zeigen. Der Andere kann mir meine Sorge abnehmen, er kann sie sozusagen für mich übernehmen und damit für mich sorgen. Damit konstituiert sich jedoch gleichzeitig ein Abhängigkeits- und damit ein Herrschaftsverhältnis. Die andere Möglichkeit der Fürsorge besteht darin, dass der Andere für mich überhaupt die Bedingungen schafft, dass ich für mich selbst sorgen kann. Daraus allerdings wird kein Herrschaftsverhältnis begründet, die Fürsorge des anderen gibt mir eher die Freiheit, mich um mich selbst zu sorgen.
Die Herrschaft des Man
Da jeder das eigene Dasein also zunächst und zumeist in Bezug auf das Dasein der Anderen versteht und damit also im Alltag durch ein Verständnis davon, wie die Anderen dem Einzelnen Fürsorge angedeihen lassen oder verweigern, ist das Dasein eines jeden von der Sorge um den Unterschied, den Abstand zwischen dem Einzelnen und den Anderen bestimmt. Damit ist aber die Möglichkeit der Selbstbestimmung des einzelnen in der durchschnittlichen Alltäglichkeit durch das eingeschränkt, ja bestimmt, was die Anderen ihm vorgeben. In der Öffentlichkeit ist jeder wie die Anderen, er ist einer von ihnen. Hier schreibt Heidegger in einer seltenen Klarheit (sodass er unmittelbar zitiert werden kann:
In dieser Unauffälligkeit und Nichtfeststellbarkeit entfaltet das Man seine eigentliche Diktatur. Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch vom „großen Haufen” zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden empörend, was man empörend findet. Das Man, das kein bestimmtes ist und das Alle, obzwar nicht als Summe, sind, schreibt die Seinsart der Alltäglichkeit vor.
Das klingt zunächst ziemlich „gesellschaftskritisch”, aber Heidegger betont ausdrücklich, dass dieser Befund ganz wertfrei-beschreibend zu nehmen ist. Der Einzelne braucht in seinem Dasein sogar diese Leitung durch das „Man”:
Das Man entlastet so das jeweilige Dasein in seiner Alltäglichkeit. Nicht nur das; mit dieser Seinsentlastung kommt das Man dem Dasein entgegen, sofern in diesem die Tendenz zum Leichtnehmen und Leichtmachen liegt.
Diese Entlastung durch das Man ist das Gleiche, was Niklas Luhmann später als „Komplexitätsreduktion durch Institutionen” bezeichnen wird [2]. Offensichtlich benötigt jeder Einzelne solche Identifikationen mit dem „Man” oder mit bestimmten Institutionen, um die Komplexität seines Alltags zu bewältigen. Das, was das „Man” vorgibt, kann vielleicht im Einzelfall kritisiert werden, darf aber nicht als Ganzes in Frage gestellt werden.
Das „Man” darf im Einzelfall kritisiert, aber nie als Ganzes in Frage gestellt werden.
Die Institutionen, die das „Man” bildet oder von denen das „Man” gebildet wird, sind für jeden Menschen andere. Es sind die Regelsysteme, die jeder einzelne für sich akzeptiert, ohne sie jedes Mal zu hinterfragen. Und wer sich gezwungen sieht, sie doch zu hinterfragen, spürt eine Verunsicherung, die zu einer reflexhaften Zurückweisung der Kritik führt.
Das „Man” findet sich in allen Institutionen, in die sich Menschen einordnen, sei es die Familie, der Wissenschaftsbetrieb oder eine Religionsgemeinschaft. Wer die Unterwerfung anderer unter die „Herrschaft des Man” kritisieren will, muss sich zunächst eingestehen, dass er selbst ebenfalls unter der Regierung eines „Man” lebt.
Es ist sinnlos, eine Institution, die sich auf ein „Man” stützt, sei es eine Religionsgemeinschaft, eine Ideologie, eine Nation, eine Familienbande oder eine Wissenschaftsgemeinschaft, als Ganzes und grundsätzlich zu kritisieren. Kritik kann nur konstruktiv sein, wenn sie konkret und auf einzelne Regeln bezogen wird. Ziel einer solchen Kritik ist nicht die Vernichtung, sondern die Reform der Institution, die Herrschaft des „Man” wird nicht gebrochen, sondern humanisiert.
[1] Eine Anmerkung für den Fall, dass Heidegger-Kenner oder -Verehrer unter den Lesern sind: Ich habe mich entschieden, hier nicht ontologisch, sondern ontisch zu argumentieren, damit der Text einerseits nicht zu lang wird und andererseits auch ohne das Lesen der 25 vorhergehenden Paragraphen von „Sein und Zeit” halbwegs verständlich ist. Dem entsprechend verwende ich die Heideggerschen Existenziale hier zumeist als ontische Kategorien.
[2] Das Konzept ist z.B. in seinem Buch „Vertrauen” nachzulesen.
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