In einem Interview, welches Rolf-Dieter Heuer, der Generaldirektor des CERN der Frankfurter Allgemeinen Zeitung gegeben hat, konnte man es am Wochenende wieder einmal lesen: Die Physiker seien dort dem auf der Spur “was die Welt im Innersten zusammenhält”. Das alte Goethe-Wort wird seit langem gern verwendet wenn es zu beschreiben gilt, was das Erkenntnisziel der physikalischen Grundlagenforschung sei. Es klingt sehr groß, sehr erhaben, doch nie war es irreführender als heute.
Die große Zeit der Physik, in der sie das Verständnis des Menschen von der Welt wirklich radikal umgeworfen hat, liegt nun Jahrzehnte, fast schon ein Jahrhundert zurück. Die Aufgabe der gleichförmig verlaufenden absoluten Zeit in einem dreidimensionalen absoluten Raum, der Welle-Teilchen-Dualismus des Lichtes, die Unschärfe-Relation – das waren im wahrsten Sinne des Wortes umwerfende Konzepte, an denen das Alltags-Verständnis sich noch heute die Zähne ausbeißt.
Aber gleichzeitig brachten diese Konzepte, so notwendig und erfolgreich sie auch waren, die Physik endgültig weg von der Antwort auf die Faust’sche Frage. Denn das „was”, nach dem darin gefragt wird, löste sich in mathematische Modelle und Konstruktionen auf. Mit jedem Elementarteilchen, das in den letzten Jahrzehnten entdeckt wurde, wird die Antwort auf die Frage, was ein Elementarteilchen denn sei, unklarer – genauer gesagt, sie wird mehr und mehr in einer Weise beantwortet, die die Rede vom „Entdecken” in Frage stellt.
Denn zunehmend muss man diese Antworten so verstehen, dass jene elementaren Bausteine der Materie eigentlich nur physikalisch-mathematische Konstruktionen sind, Bestandteile von Gleichungssystemen, mit denen die beobachteten Zeigerausschläge an Messgeräten und die Auswertungen von gigantischen Zahlenmengen die an den Sensoren der Beschleuniger anfallen, erfasst und vorausberechnet werden können. Was aber ist es dann, was da „entdeckt” oder „nachgewiesen” wird, wenn die Forscher tatsächlich das „Higgs-Boson” finden. Ein mathematischer Ausdruck kann wohl kaum „die Welt im Innersten zusammenhalten”.
Für das grundsätzliche Welt-Verständnis des Menschen ist der Nachweis des nächsten Teilchens deshalb letztlich nicht mehr relevant. Damit wird nicht gesagt, dass man die Suche nach ihm einstellen sollte. Sicherlich wird der Erfolg der Experimente für die Sicherung der Gleichungen und diese wiederum für die Beantwortung vieler Einzelfragen gebraucht. Und es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch der technologische Fortschritt von diesen Forschungen eines Tages profitieren kann.
Aber man sollte aufhören, davon zu sprechen, dass uns die Physik die Antwort auf ausstehende Grundsatzfragen unserer Welt, unseres Daseins noch liefern kann. Das meinte Jean Beaufret, als er bereits 1969 bemerkte, ontologisch sei die Physik bereits am Ende: Auf die Frage, was da ist und was das sei, was „die Welt” zusammenhält, kann sie uns keine Antwort geben. Im Gegenteil, jeder Antwortversuch, den die Physik noch gibt, macht die Frage unschärfer – das Fragewort „was” wird ebenso verschwommen wie der Begriff der „Welt” – sodass die Möglichkeit, nach einer Antwort zu suchen, durch eine Physik, die glaubt, hier noch mitreden zu müssen, nur noch erschwert werden kann.
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