In seiner Replik auf meinen Text über Zerfall und Erstarken der Nationalstaaten führt Ali Arbia ein paar Thesen über (nationale) Identität aus, die ich hier noch einmal gesondert diskutieren möchte. Ali Arbia vertritt einen Standpunkt, der in den letzten Jahren vor allem in Auseinandersetzung mit Huntingtons Kulturkampf-These populär geworden ist und dessen bekannteste Verteidigung von Amartya Sen in seiner Huntington-Kritik „Identity and Violence” (in deutscher Sprache unter dem Titel „Die Identitätsfalle” erschienen) vorgelegt wurde.
Diesem Standpunkt zufolge zeichnet sich Identität vor allem durch zwei Merkmale aus: Identität ist einerseits fassettenreich und vielschichtig (multipel) und andererseits weitgehend frei wählbar. Zur Begründung des multiplen Charakters der Identität wird sowohl von Ali Arbia als auch von Amartya Sen darauf verwiesen, dass niemand seine Identität nur aus seiner Nationalität bezieht, sondern dass er auch andere Identitäten hat, die sich z.B. auf seinen Beruf, sein Geschlecht, seine Hobbys, seine Vorlieben, seinen Familienstand beziehen. Das führt dazu, dass jeder Mensch mit einem anderen Menschen manchmal und in bestimmter Hinsicht die gleiche Identität hat, manchmal und in anderer Hinsicht aber eine andere.
Ein verlockendes Konzept von Identität
Freie Wählbarkeit der Identität bedeutet nach diesem Konzept zweierlei: Ich kann einerseits meine Identität weitgehend frei bestimmen, ich kann selbst entscheiden, ob ich Fußballer oder Tänzer oder Marathonläufer oder auch Unternehmer oder Blogger sein will, und ich kann in der Kommunikation mit anderen Menschen selbst bestimmen, in welcher Identität ich ihm entgegentrete, ob ich z.B. dem Schweizer Ali Arbia als Deutscher gegenübertrete (und dadurch einen Unterschied betone) oder dem Blogger Ali Arbia als Blogger begegne (und damit eine Gemeinsamkeit hervorhebe).
Das Konzept klingt schön und ist vor allem für die Begründung einer Welt gedacht in der es „keinen Kampf der Kulturen gibt” (wie es im deutschen Untertitel von Sens Buch heißt) – und es wäre auch mit aller Kraft zu unterstützen, wenn es als Appell zur Verständigung und als Weg in eine anzustrebende schöne neue Welt formuliert wäre. Es ist aber sowohl bei Sen als auch bei Arbia deskriptiv, als Behauptung von Wirklichkeit, geschrieben und deshalb muss es als das, was es in Wirklichkeit ist, zurückgewiesen werden: Als schöner Traum.
Persönliche Identität und Gruppen-Identität
Zunächst einmal vermischt das Konzept zwei verschiedenen Identitätsbegriffe, die man voneinander trennen muss: die persönliche Identität des einzelnen Menschen und die Gruppenidentität, z.B. die einer Fußballmannschaft, eines Unternehmens (Corporate Identity) oder einer Nation (nationale Identität). Die persönliche Identität bildet sich im Laufe des Lebens durch das Sprechen- und Laufenlernen, die Erziehung, die Ausbildung, die Beschäftigung mit Hobbys, das Eingehen von Partnerschaften heraus, zum großen Teil ist diese Identitätsbildung keine Frage der freien Entscheidung sondern eine Frage der Umstände, in die wir unfreiwillig gestellt sind. Der Einzelne kann zwar Entscheidungen treffen, aber die sind immer von seinem bisherigen Weg und von den Bedingungen, unter denen sie getroffen werden, bestimmt. Wer hier von freier Wahl spricht, ignoriert eine Erkenntnis, die Karl Marx schon in seinem Abituraufsatz brillant formuliert hat
Wir können nicht immer den Stand ergreifen zu dem wir uns berufen glauben. Unsere Verhältnisse in der Gesellschaft haben einigermaßen schon begonnen, ehe wir sie zu bestimmen im Stande sind.
Die Entwicklung meiner persönlichen Identität macht mich nicht einerseits zum Deutschen und andererseits zum Tänzer, zweier Identitäten, zwischen denen ich nach Bedarf frei wählen könnte, sondern ich werde zum tanzenden Deutschen oder zum deutschen Tänzer, ja, sogar zum bloggenden deutschen Tänzer oder zum tanzenden deutschen Blogger – ich bin immer alles gleichzeitig. Das merke ich zum Beispiel dann, wenn ich, nachdem ich jahrelang in Tanzschulen Walzer, Rumba, Tango und Foxtrott getanzt habe nun in der Salsomania cubanischen Salsa lernen will: Mein Salsa wird immer deutsch bleiben – und weil ich während des Tanzens darüber nachdenke, dass das ein gutes Beispiel für meine kulturelle Identität ist, konzentriere ich mich als tanzender Blogger zu wenig aufs Tanzen.
So wenig, wie ich mich zwischen der Identität des Tänzers und der des Deutschen entscheiden kann, kann ich meine Identität nach belieben wechseln und z.B. durch einen Umzug in die Schweiz und einen Wechsel der Staatsbürgerschaft eine Identität als Schweizer annehmen wie sie Ali Arbia hat. Warum das so ist, hatte ich im Anschluss an Heidegger bereits vor einigen Tagen erläutert. Natürlich kann ich zum „Willens-Schweizer” werden – aber das hat mit meiner Identität, die durch die deutsche Sprache und Kultur, durch die deutsche Ausbildung, durch meine ganze bisherige Prägung gebildet wurde, nichts zu tun.
Wir identifizieren uns nicht, wir werden identifiziert.
Gruppen-Identität entsteht durch Gemeinsamkeit von persönlichen Identitäten, diese Identitäten sind tatsächlich immer Kontext-bezogen. Es ist unbestreitbar, dass in bestimmten Kontexten Teile meiner Identität betont und andere zurückgedrängt werden, dass ich auf der Tanzfläche nicht immer gleichzeitig Blogger und Unternehmer bin, ist unbestreitbar – sonst wäre eine Gruppen-Identität gar nicht möglich. Entscheidend aber ist, dass ich das Wirken meiner Identität nicht einfach an- und ausschalten kann, die relative Unabhängigkeit von Teilen meiner Identität funktioniert nur in ganz abgegrenzten Bereichen. Dass ich Deutscher bin, kann ich als Tänzer unter Tänzern eben nur so lange „ignorieren” wie ich mich ohnehin schon unter deutschen Tänzern bewege, dass ich tanzender Unternehmer bin und ein anderer tanzender Student ist wird spätestens dann deutlich wenn ich vorschlage, nach der Tanzstunde noch gemeinsam im Nobel-Restaurant essen zu gehen.
Zuordnung einzelner Personen zu Gruppen-Identitäten erfolgt zwar immer, indem sich der Einzelne mit der Gruppe identifiziert, aber so aktiv dieses Verb auch klingt, diese Identifikation ist keine freie Entscheidung. Wir identifizieren uns nicht, wir werden identifiziert: Als Deutscher, weil wir eine fremde Sprache nicht so sicher beherrschen oder weil wir beim Carneval in Rio zwar die Salsa-Schritte beherrschen aber der Schwung in den Hüften eben doch etwas verkrampft aussieht, als Unternehmer, weil wir bestimmte Getränke und bestimmte Kleidung bevorzugen und im Gespräch immer wieder auf gewisse Themen zu sprechen kommen.
Gerade hinsichtlich der nationalen Identität ist der Einzelne am wenigsten frei in seiner Identifikation. Natürlich muss, um diesem Satz einen konkreten Sinn zu geben, der Begriff der Nation genauer bestimmt werden. In der bisherigen Diskussion wurde mir vorgeworfen, dass ich diese genauere Bestimmung vermissen lasse, allerdings wurden kaum tragfähige präzise Bestimmungen dagegengesetzt. Schon im Initialtext zu dieser Diskussion hat Ali Arbia die überraschende Behauptung aufgestellt, dass eine „gewisse Einheitlichkeit der Bevölkerung (z.B. Sprache, Ethnie, Geschichte) als Kriterium” für die Nation nicht ausreiche weil es für „die meisten Staaten kaum” zutrifft, Er setzt als „gängige Definition” den „Wunsch, zusammenleben zu wollen” dagegen.
Nation ist ein Familienbegriff
Nun ist es sicherlich sehr gewagt zu behaupten, dass in den meisten der heutigen Nationalstaaten nicht eine gewisse Einheitlichkeit der Bevölkerung hinsichtlich ihrer Sprache, ihrer kulturellen Prägungen und Traditionen, ihrer Abstammung und ihrer Geschichte zu beobachten wäre. „Nation” ist ein Begriff, der im Sinne von Ludwig Wittgenstein „Familienähnlichkeiten” beschreibt, nicht in jedem Einzelfall treffen alle Merkmale zu, aber es gibt immer große Überlappungen: Eine Nation konstituiert sich durch die gleiche Sprache und Abstammung, bei der nächsten sind es vor allem kulturelle Gemeinsamkeiten und eine gemeinsame Geschichte usw. Letztlich kann man aber aufgrund einer Gruppe solcher Attribute, die sich bei verschiedenen Nationen immer wieder finden lassen, eine bestimmte Nation ziemlich genau bestimmen.
Will man einem solchen Nation-Begriff eine Bestimmung über den „Wunsch, zusammenleben zu wollen” entgegensetzen muss man fragen, woher ein solcher Wunsch wohl kommt. natürlich gab es Nationen-Gründungen aus Willensentscheidungen, aber schon diese Entscheidungen waren in Übereinstimmungen einer Geschichte, einer Tradition, einer bereits ausgeprägten Kultur begründet. Die USA sind hier das beste Beispiel. Der Begründung der Willensnation voraus ging bereits ein langes Stück gemeinsamer Geschichte.
Auch Willens-Nationen werden schließlich zu Kultur-Nationen
Und was hat diese Nationen stabil gemacht wenn nicht die Pflege einer gemeinsamen Kultur, das gemeinsame Meistern eben der geschichtlichen Herausforderungen, die mit der Nationsgründung begann. Umso länger die Pflege einer Tradition andauert, umso mehr geschichtliche Ereignisse die Mitglieder der Willensnation miteinander verbindet, desto stabiler wird die Nation, und desto mehr wird sie zur Nation im ganz herkömmlichen Sinn. Diese Identifikation ist auch dann noch stark, wenn der ursprüngliche Wille zusammenzuleben, längst verblasst ist.
Hingegen ist der Wille, nicht mehr zusammenzuleben, eben immer entlang kultureller und sprachlicher und damit herkömmlich nationaler Grenzen zu beobachten. Und das gilt eben nicht nur für Osteuropa – wobei unklar ist, warum Ali Arbia diese Prozesse, in denen sich Bevölkerungen, die über viele Jahrzehnte zusammenlebten, plötzlich und mit macht wieder als unterschiedliche Nationen wahrnehmen, als Ausnahmen abtut. Aber das kann dahin gestellt bleiben, weil eben auch in Westeuropa die gleichen Prozesse zu beobachten sind. Wenn ein Land wie Belgien 2007-2008 über 6 Monate keine Regierung hat, wenn die dann mühsam gefundene Regierung schon Ende 2008 schon wieder am Ende ist und wenn das ganze Programm der neuen Regierung nur noch darin besteht, die Teilung des Landes in einer „losen Föderation” halbwegs zu kaschieren, dann kann man de facto wohl kaum noch von einem belgischen Nationalstaat sprechen, auch wenn er de jure noch besteht.
Staaten zerfallen, Nationen erstarken
Und damit komme ich noch einmal zum Kern meiner ursprünglichen These vom Zerfallen und Erstarken der Nationalstaaten. Wir beobachten gegenwärtig Spaltungsprozesse von Staaten in Europa – diese Spaltungen mögen durch Föderationskonstruktionen halbwegs verdeckt werden. Staaten wie Belgien bleiben vielleicht de jure noch lange erhalten, sie werden als Hülle im internationalen Vertragsgeflecht möglicherweise noch eine ganze Zeit lang gebraucht. Durch diese Spaltungen scheint aber das Konzept des Nationalstaates nicht geschwächt zu werden – im Gegenteil, es wird gestärkt, weil die Gebilde, die entstehen, ob man sie nun als Staaten oder als autonome Gebiete bezeichnet, nationale Gebilde sind.
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