Alvin M. Weinberg war Physiker. Er leitete jahrzehntelang das amerikanische Kernforschungszentrum Oak Ridge National Laboratory und war in den 1960er Jahren einer der wichtigsten Berater der US-Regierung in Wissenschaftsfragen. Ein solcher Mann steht kaum in dem Verdacht, zu philosophisch an grundlegende Fragen der Wissenschaft heranzugehen oder gar ein Wissenschaftsfeind zu sein. Umso interessanter ist es, seine „Reflections on Big Science”, eine 1967 erschienene Aufsatz-Sammlung (in deutscher Sprache 1970 bei Suhrkamp unter dem Titel „Probleme der Großforschung” erschienen) heute zur Hand zu nehmen und den Überlegungen Weinbergs mit dem Abstand von über 40 Jahren nach zu denken.
Da die Vielfalt an interessanten Gedanken so groß ist, werde ich dem Buch zwei Texte widmen. In diesem ersten Text geht es um die Frage der Bewertung von Wissenschaft insbesondere hinsichtlich der Notwendigkeit der staatlichen Subventionierung. In einem zweiten Text werde ich mich mit Weinbergs Gedanken zu den „Grenzen der Wissenschaft” beschäftigen.
In der Wissenschaftsförderung sind Entscheidungen nötig
In Anbetracht der Tatsache, dass wissenschaftliche Forschung immer teuer wird und dass es durch die stetige Expansion der Wissenschaften immer mehr wissenschaftliche Betätigungsfelder gibt, die finanziert werden können, akzeptiert Weinberg ohne Zögern die Tatsache, dass bei der Subventionierung von Forschungsprogrammen Prioritäten gesetzt und Entscheidungen getroffen werden müssen. Um diese Entscheidungen treffen zu können, müssen Bewertungen vorgenommen werden, und zwar wissenschaftsintern aber auch wissenschaftsextern, da Wissenschaft zunächst auch mit anderen, nicht wissenschaftliche Vorhaben um staatliche Gelder konkurriert. Weinberg sieht die externen Kriterien als entscheidend an (Seite 152 [1]).
Die externen Kriterien sind: technologische Relevanz, wissenschaftliche Relevanz und soziale Relevanz. Technologische Relevanz besteht, wenn die fragliche Forschung unmittelbar darauf gerichtet ist, eine Technologie voranzubringen.
Wissenschaftliche Relevanz hat ein Forschungsvorhaben, wenn es hilft, andere, benachbarte Wissenschaften voranzubringen. In diesem Zusammenhang ist es interessant, dass Weinberg bestätigt was schon John von Neumann beobachtet hat, dass Wissenschaften, die sich zu weit von ihrer empirischen Quelle entfernt haben, dazu neigen barock zu werden. Das heißt für Weinberg,
sie zeigen die Tendenz, sich mit der Entwicklung komplexerer Einzelheiten zu befassen, die vor allem für die Experten dieses Bereichs selbst von Interesse sind. (Seite 156)
In diesem Zusammenhang nennt schon Weinberg ganz ausdrücklich die Hochenergiephysik. Er verweist darauf, dass die „subnukleare Welt seltsamer Teilchen” kaum Relevanz für den Rest der Wissenschaft hat. Interessant ist zu lesen, was Weinberg schon 1964, nach der ersten Veröffentlichung seines Aufsatze von einem Hochenergiephysiker entgegengehalten wurde
Fragen, die die Stabilität der Nukleonen betreffen, die Gründe der Massendifferenz von Neutron und Proton, auf der die Existenz der Materie basiert … das Problem, warum eine bestimmte und nur eine elektrische Ladungseinheit besteht, sind diese und ähnliche Fragen unwichtig und entfernt vom Rest der Wissenschaft? Es scheint vielmehr, dass sie mitten in das Zentrum aller wissenschaftlichen Interessen führen.(Seite 162)
Diese Argumentation erinnert erstaunlich an das Selbstverständnis heutiger Hochenergiephysiker am CERN – gleichwohl hat die Ansicht Weinbergs, dass „es nur wenige in der Wissenschaft gibt, die ungeduldig auf die Ergebnisse der Hochenergiephysik warten” wohl auch heute noch Gültigkeit.
Grundlagenforschung und Kunst
Grundlagenforschung ist wie die Kunst eine Ausdrucksform der Wahrheit
Hochenergiephysik ist Grundlagenwissenschaft, und von Grundlagenwissenschaft hat Weinberg einen erfreulich klaren Begriff, das ist diejenige Wissenschaft „die durch keinerlei Begründung gerechtfertigt werden kann, mit Ausnahme der Tatsache, dass sie die menschliche Neugier befriedigt” (Seite 175). Solche Grundlagenwissenschaft müsste nach Weinberg nach den gleichen Kriterien und im gleichen Umfang gefördert werden wie Musik, Literatur und bildende Kunst. Viele Analogien sieht Weinberg zwischen Grundlagenforschung und Kunst:
Beide sind ausgeprägt individuelle Erfahrungen… Beider Ergebnisse sind unsterblich… Beide sind Ausdrucksformen der Wahrheit. Die eine hat mit wissenschaftlicher Wahrheit zu tun (die die Regelmäßigkeiten der menschlichen Erfahrung beschreibt), die andere mit künstlerischer Wahrheit (die die Individualität menschlicher Erfahrung wiedergibt). (Seite 177)
Würde man also die staatlichen Subventionen für die Grundlagenwissenschaft zu denen für die Künste in Bezug setzen, so könnte man nach Weinberg einerseits für die Wissenschaft ins Feld führen, dass deren Wahrheit allgemein nachprüfbar ist, was für die künstlerische Wahrheit nicht gelte. Andererseits aber müsste man bedenken, dass die Ergebnisse der Kunst vielen Menschen zu gute kommen, während die Grundlagenwissenschaft „im großen und ganzen ein geheimes Unternehmen [ist], von dem ausschließlich diejenigen profitieren, die es ausüben” (Seite 179).
Das Problem der Finanzierung der Großforschung wäre aber noch nicht gelöst wenn es gelänge, die Wissenschaft genauso wie die Kunst auch den Laien zugute kommen zu lassen. Deshalb plädiert Weinberg letztlich doch dafür, die Kosten dieser Projekte irgendwie als Gemeinkosten bei den Wissenschaften unterzubringen, für die sie vielleicht irgendwann einmal nützlich sein werden. Dass das ein Kompromiss ist und dass die gesellschaftliche Akzeptanz einer subventionierten Wissenschaft keine Selbstverständlichkeit ist, das ist für Weinberg völlig klar. Seinen wissenschaftlichen Kollegen aller Disziplinen schreibt er deshalb ins Stammbuch:
Unsere Gesellschaft sieht sich mit derart vielen ungelösten und dringenden Aufgaben konfrontiert, dass die Wissenschaft als solche kaum ihr Hauptproblem sein kann. Würden die Wissenschaftler als Gruppe unterstellen, dass … die Wissenschaft zur Hauptaufgabe der Menschheit gemacht werden müsste, so wäre dies unverantwortlich… Es ist durchaus denkbar, dass die Gesellschaft es müde werden könnte, einen so hohen Anteil ihres Reichtums der Wissenschaft zukommen zu lassen. Insbesondere, wenn die beim Beginn großer Projekte gemachten Versprechungen nicht eingelöst werden können. (Seite 167)
[1] Alle Seitenangaben und Zitate beziehen sich auf die deutsche Ausgabe.
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