Vor etwas mehr als einem halben Jahrhundert hielt einer der Väter der Quantenphysik, Werner Heisenberg, einen Vortrag unter dem Titel “Das Naturbild der heutigen Physik”.
Der Vortrag wurde mit anderen in einem schmalen Taschenbuch abgedruckt, die erste Auflage erschien 1955 und innerhalb eines Jahres waren 70.000 Exemplare verkauft. Bis zum Anfang der 1970er Jahre wurde das Buch knapp 140.000 Mal verkauft, heute ist es nur noch antiquarisch zu bekommen.
Der Text setzt sich, wie viele andere Vorträge Heisenbergs, mit der Frage der Realität der Elementarteilchen auseinander, und mit den Konsequenzen, die die Quantentheorie für unser Verständnis von der Natur und für die Fähigkeit des Menschen, die Natur zu “erklären” oder zu “verstehen” hat.
“Die Vorstellung von der objektiven Realität der Elementarteilchen hat sich verflüchtigt.” Werner Heisenberg
Die moderne Physik hat, so Heisenberg, eine “Krisis der materialistischen Auffassung” von der Natur hervorgebracht. Die “objektive Realität der Elementarteilchen” ist eine “zu grobe Vereinfachung des wirklichen Sachverhaltes” und muss “viel abstrakteren Vorstellungen weichen”. “Die Vorstellung von der objektiven Realität der Elementarteilchen hat sich also in einer merkwürdigen Weise verflüchtigt, nicht in den Nebel irgendeiner neuen, unklaren oder noch unverstandenen Wirklichkeitsvorstellung sondern in die durchsichtige Klarheit einer Mathematik, die nicht mehr das Verhalten des Elementarteilchens, sondern unsere Kenntnis dieses Verhaltens darstellt.”
“Der Mensch steht nur noch sich selbst gegenüber”
Die Quantenphysik zeigt mit aller Deutlichkeit, dass “der Gegenstand der Forschung nicht mehr die Natur an sich, sondern die der menschlichen Fragestellung ausgesetzte Natur” ist. Wir können über die tatsächlichen Eigenschaften, über das wirkliche Verhalten, ja selbst über die Existenz der Elementarteilchen nichts sagen, weil wir über sie niemals direkt, sondern nur über die Konsequenzen unseres Eingreifens Erkenntnisse erlangen. Und es kann ja sein, dass sich bei anderem Eingreifen ganz andere Objekte mit anderen Eigenschaften finden lassen würden. “Die naturwissenschaftliche Methode des Aussonderns, Erklärens und Ordnens wird sich der Grenzen bewusst, die ihr dadurch gesetzt sind, dass der Zugriff der Methode ihren Gegenstand verändert und umgestaltet, dass sich die Methode also nicht mehr vom Gegenstand distanzieren kann. Das naturwissenschaftliche Weltbild hört damit auf, ein eigentlich naturwissenschaftliches zu sein.”
Die Naturwissenschaft erklärt nichts, sie macht beherrschbar
Was das bedeutet hat Heisenberg an verschiedenen Stellen detailliert ausgeführt (z.B. : Physik und Philosophie). Kurz gesagt hat sich die Physik, eigentlich schon seit Newton, von dem Ziel verabschiedet, die Natur im eigentlichen Sinne des Wortes zu “erklären” (Heisenberg selbst setzt dieses Wort oft in Anführungsstriche). Vielmehr geht es darum, einen mathematischen Formalismus zu finden, um die experimentellen Befunde, das, was tatsächlich beobachtet werden kann, zu ordnen und richtig vorhersagen zu können. Dies versetzt den Menschen in die Lage, die Prozesse zu beherrschen: Er kann Apparate konstruieren, in denen die Bedingungen so gesichert werden, dass das Verhalten des Apparates vorhergesagt und gesteuert werden kann.
Paradoxerweise ist es also gerade so, dass der Verzicht auf das “Verstehen” der Natur dazu führt, dass sie beherrschbar wird, und die großen Erfolge der Technik sind auf eben diesen Verzicht zurück zu führen.
Hat sich die Physik damit abgefunden?
Die Quantenphysik habe sich mit dieser Situation abgefunden, meint Heisenberg. Ist das wirklich so? Die Physikerin und Philosophin Brigitte Falkenburg konstatiert gleich zu Beginn ihres Buches Teilchenmetaphysik
Die meisten Physiker haben eine realistische Auffassung bezüglich der Existenz der von ihnen untersuchten physikalischen Objekte: sie nehmen an, dass es Kräfte, elektromagnetische Felder und mikroskopische Teilchen wie Elektronen, Protonen und Neutronen innerhalb und außerhalb ihrer Laboratorien gibt und dass sie wirkliche, wenn auch in der theoretischen Beschreibung idealisierte Ursachen experimenteller Phänomene und Bestandteile der Natur sind.
Brigitte Falkenburg hat sowohl in Teilchenphysik als auch in Philosophie promoviert, sie ist heute Vorsitzende der Arbeitsgruppe Philosophie der Physik der Deutschen Physikalischen Gesellschaft. Ihre Einschätzung stützt sich also auf eine intime Kenntnis des “Naturbildes der heutigen Physik”.
Was ist in den vergangenen Jahrzehnten geschehen? Hat es irgendwelche gravierenden Veränderungen innerhalb der Quantenphysik gegeben die Anlass zu der These geben könnten, die Physik hätte nun doch, anders als von Heisenberg gesagt, Kenntnisse über die Existenz und die Eigenschaften der Elementarteilchen “an sich”? Mitnichten. Alle weiteren Befunde haben die Physik nur noch weiter auf dem Weg vorangebracht, den Heisenberg beschrieb: sie erklärt die Natur nicht, indem sie Unverstandenes auf Verstandenes, Unbekanntes auf Bekanntes und Vertrautes zurückführt, sie macht die Natur jedoch mathematisch und experimentell und damit technisch beherrschbar.
Also haben sich die Physiker doch nicht mit der Situation abgefunden, die Heisenberg beschrieb. Sie begeben sich damit in eine merkwürdige Lage, denn ihr Realismus ist ja nicht, noch weniger als vor 50 Jahren, wirklich zu rechtfertigen. Letztlich wird ihr Verhalten damit zwiespältig: sie handeln im Experiment im Heisenbergschen Sinn, aber sie sprechen untereinander und vor allem mit Laien die Sprache eines Realismus. Aus diesem Zwiespalt rührt die Tatsache, dass sich die Wissenschaftler gegenüber den Laien oft schwer verständlich machen können: Nur die “wissenschaftsgläubigen Nicht-Physiker” lassen sich von “populären Darstellungen der Theorien” an die “unreflektierte naturphilosophische Assoziationen geknüpft werden” (Falkenburg, Seite 23) faszinieren. Heisenberg hat aber schon gezeigt, dass eine realistische Sprache keine logisch widerspruchsfreie Darstellung der Quantenphysik erlaubt.
Prinzipielle Fragestellung und praktisches Handeln
Andererseits zeigt sich: Man kann durchaus erfolgreich Physik betreiben und dabei anschaulich-realistische Vorstellungen von Elektronen und Higgs-Teilchen haben. Eine Einstellung, die für Heisenberg jedoch unmöglich war. In seinem Vortrag über humanistische Bildung, Naturwissenschaft und Abendland (abgedruckt in dem gleichen Taschenbuch) beschreibt er, dass ihn schon als Abiturient jede anschauliche Beschreibung von Atomen empört hat. Heisenbergs Weltbild wurzelt in einer intensiven Beschäftigung mit den prinzipiellen Fragen des abendländischen Denkens: von Platon und den antiken Atomisten über Descartes Trennung von res cogitans und res extensa bis zur Sprachphilosophie des 20. Jahrhunderts. Denn die Stärke des Abendländischen Denkens sieht Heisenberg in “der engen Verbindung zwischen prinzipieller Fragestellung und praktischem Handeln”. “Wer in irgendeinem Fach, sei es Technik oder Medizin, den Dingen auf den Grund gehen will, der wird früher oder später auf diese Quellen in der Antike stoßen, und er wird für seine eigene Arbeit viele Vorteile daraus ziehen, wenn er von den Griechen das prinzipielle Denken, die prinzipielle Fragestellung gelernt hat.”
Wenn ich mir einen Moment lang vorstelle, dass die Physiker Heisenbergs Ansatz gefolgt wären, wenn sie heute nicht sagen würden, dass sie nach kleinen Bausteinen und den Kräften zwischen ihnen suchen, sondern dass sie einen mathematischen Apparat gefunden haben, der Lösungen liefert, die praktisch geprüft werden können. Dass man diesen Lösungen mathematischer Gleichungen Namen gibt und dass sie eben “Elektron” oder “Higgs-Boson” heißen und dass manche experimentellen Befunde eben so aussehen, als ob das Wellen wären und andere so, als ob es sich um Teilchen handeln würde. Wenn die Physiker uns keine anschauliche Welt kleiner merkwürdiger Teilchen malen würden. Ich glaube, das Tun der Physiker wäre uns verständlicher, und es würde nicht von seiner Faszination einbüßen. Natürlich müssten sie sich von dem Anspruch verabschieden, die Welt zu “erklären” – aber dass es gelingt, durch Verbindung von Mathematik und Experiment das Verhalten von Apparaten zu beherrschen, ist doch auch bewundernswert.
Kommentare (232)