Das allgemeine Interesse am Zweiten Hauptsatz der Thermodynamik ist erstaunlich groß, und das liegt vielleicht daran, dass seine Aussagen weit mehr mit unserem Alltag zu tun haben als andere physikalische Gesetze. Und das Interessante ist: Es gibt so viele Erfahrungen, die den Satz zu bestätigen scheinen, und es gibt ebenso viele Erfahrungen von denen man den Eindruck hat, dass sie dem Satz widersprechen.
In seiner populärsten Version besagt der Satz, dass die Unordnung immer größer wird, wenn man keine Energie aufwendet, um die Ordnung aufrecht zu erhalten. Diese Formulierung ist wunderbar alltagstauglich: Der Blick in jedes Kinderzimmer bestätigt den Eltern, dass der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik gültig ist, und wer aus dem Sommerurlaub zurückkehrt und in den Garten schaut, in dem das Unkraut sprießt, verflucht die universelle Gültigkeit des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik.
Auf der anderen Seite sehen wir ständig neue Ordnung aus dem Nichts entstehen, und die Wissenschaften belehren uns darüber, dass überall und offenbar von Beginn des Universums an neue Ordnung entsteht: Aus der dichten Materie nach dem Urknall sind Sonnensysteme und Galaxien entstanden, auf Planeten haben sich Gebirge aufgefaltet, auf manchen Planeten hat sich eine Atmosphäre gebildet, und auf der Erde z.B. sind in dieser Atmophäre ganz wunderbare Ordnungen der Pflanzen und Tiere und schließlich soziale und kulturelle Ordnungen entstanden. Widerspricht das nicht dem Zweiten Hauptsatz?
Wir können aber auch in unsere ganz alltägliche Welt schauen: Gerade freuen wir uns noch über die Gültigkeit des Zweiten Hauptsatzes, weil er ganz ohne Löffel-rührende Energiezufuhr dafür sorgt, dass sich die Milch im Kaffee verteilt, da bemerken wir entsetzt, dass sich in der Milch, ganz ohne Energiezuführ, Klümpchen gebildet haben, also Strukturen, Ordnung entstanden ist. Und wir wissen, dass wir manchmal viel Energie aufwenden müssen um Ordnung zu zerstören, z.B. wenn wir Öl mit Wasser vermischen wollen: Umsonst. Kaum stellen wir die Energiezufuhr ein, schwimmt das Öl wieder oben, die alte Ordnung wird wieder hergestellt. Kehrt sich hier das Gesetz des Zweiten Hauptsatzes sogar um?
Kein Theorem der Physik eignet sich besser dazu, die Verwendung und Ausweitung eines Konzeptes in der Wissenschaft zu verfolgen und zu verstehen wie der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik – und kein Gesetz ist besser dazu geeignet zu verfolgen, wie die Popularisierung einer Theorie mehr Verwirrung als Klärung herbeiführt als dieses Theorem.
Die Wurzeln
Die Thermodynamik ist die erste physikalische Disziplin, deren Entwicklung ohne die Technik, die eine funktionierende Theorie brauchte, nicht denkbar war. So sind auch die thermodynamischen Hauptsätze als Erfahrungssätze der Maschinenbauer entstanden. In seiner ersten Formulierung besagt der zweite Hauptsatz der Thermodynamik nichts anderes, als dass es unmöglich ist eine Maschine zu bauen die nichts anderes tut als einen Stoff (z.B. eine Flüssigkeit) abzukühlen und eine Arbeit zu verrichten.
Ein Beispiel
Stellen wir uns eine Schiffsschraube vor, die von einem Motor angetrieben wird: Wird die Schraube vom Motor getrennt, bleibt die Schraube, die sich im Wasser dreht, zunächst in Bewegung, wird langsamer und bleibt stehen. Würden wir die Temperatur des Wassers messen, würden wir bemerken, dass es wärmer geworden ist. Man sagt, die kinetische Energie der Schraube hat sich in Wärmeenergie des Wassers umgewandelt.
Mit dem Wissen, dass das Wasser aus kleinen Teilchen (Wassermolekülen) besteht, lässt sich das leicht erklären: Die Moleküle werden von der Schiffschraube mitgerissen, sie berwegen sich in die gleiche Richtung. In größerem Abstand von der Schraube bewegen sich die Wassermoleküle ungeordnet. Da die Wassermoleküle ständig miteinander und mit der Schraube zusammenstoßen bremsen sie sich gegenseitig ab. Wenn die Schraube keine weitere Bewegungsenergie beisteuert, wird sie von den Molekülen, die zufällig in Gegenrichtung unteregs sind, immer weiter abgebremst. Am Schluss steht die Schraube, umgeben von Wassermolekülen die in alle möglichen Richtungen gegen das Metall stoßen, sich in ihrer Wirkung aber aufheben.
Niemand kann sich nun folgendes Szenario vorstellen: Plötzlich bewegen sich alle Wassermoleküle ganz zufällig in Drehrichtung der Schraube, stoßen diese an, setzen sie in Bewegung (und werden dabei selbst abgebremst, was einer Abkühlung des Wassers entspricht). Und genau die Erfahrung, dass das niemals passieren wird, ist die Aussage des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik. Es ist die gleiche Erfahrung wie die, dass Bewohner von Kinderzimmern niemals durch zufälliges Anheben, Benutzen und Fallenlassen von Kleidungstücken, Spielsachen und Büchern eine Ordnung herstellen werden, die den Eltern zusagt.
Die Schiffschraube, vom Motor getrennt, zusammen mit dem Wasser, das sie umfließt, kann man sich als ein so genanntes abgeschlosses System vorstellen: Es tauscht mit seiner Umgebung weder Energie noch Stoffe aus. Dann kann man den zweiten Hauptsatz der Thermodynamik so formulieren: In abgeschlossenen Systemen nimmt die Unordnung immer zu. Unordnung heißt hier, dass das Verhalten der Teile (der Wassermoleküle) ziemlich genau einer Gleichverteilung aller überhaupt möglichen Verhaltens-Möglichkeiten entspricht. D.h., die vielen Wassermoleküle werden alle überhaupt möglichen Positionen und Bewegungsrichtungen auch wirklich einnehmen. So wie eine Kinderschar, die wild herumspringt, ein unordentliches Bild abgibt, wohingegen “Ornungsfanatiker” Wohlgefallen daran finden, wenn die Kinder brav in einer Reihe gehen.
Die Entropie
Nun brauchen wir nur noch ein Maß für die Unordnung, und dieses Maß ist die Entropie. Für thermodynamische Systeme wie einfache Flüssigkeiten kann man die Entropie recht einfach definieren, sodass man ihre Änderung in einem System ziemlich gut messen kann. Dann ist der Zweite Hauptsatz in mathematisch fassbarer Form fertig: Die Änderung der Entropie in abgeschlossenen Systemen ist immer größer oder gleich Null.
So schön das Bild von der Entropie als Maß der Unordnung ist, so schnell stößt der aufmerksame Betrachter auf Schwierigkeiten. Ein einfaches Beispiel haben wir, wenn wir dem Wasser, in dem sich die Schiffschraube dreht, Öl beimischen. Bleibt die Schraube stehen, setzt sich das Öl an der Wasseroberfläche ab: Offenbar ist dieser Zustand geordneter als der, in dem das Öl mit dem Wasser vermischt ist. Hat die Entropie nun zu- oder gar abgenommen? Die Antwort ist: Das kommt ganz darauf an.
Ergodische Systeme
Der einfache Entropie-Begriff passt nämlich nur in so genannten ergodischen Systemen. Um zu prüfen, ob ein System ergodisch ist, macht man zwei Versuche: Man misst im ersten Versuch alle Orte und Geschwindigkeiten aller Teilchen des Systems und bildet das jeweilige Mittel. Dann beobachtet man im zweiten Versuch ein einzelnes Teilchen des Systems eine lange Zeit. Und bildet aus den gemessenen Werten von Ort und Geschwindigkeit ebenfalls das Mittel. Bei ergodischen Systemen muss beides gleich sein. Das leuchtet ein: In einem Wasserglas kommt ein einzelnes Wassermolekül früher oder später an jedem Ort vorbei, und es ist mal schneller und mal langsamer. Es ist also egal, ob ich viele Wassermoleküle zur gleichen Zeit sehe oder eines zu verschiedenen Zeiten.
Das Öl-Wasser-Gemisch ist nicht ergodisch. Wenn ich ein Wassermolekül verfolge kommt ein anderes Ergebnis heraus als wenn ich ein Öl-Molekül verfolge, weil die Öl-Moleküle sich an der Wasseroberfläche versammeln.
Nun hat man zwei Möglichkeiten: Entweder man sagt, in diesen Systemen gilt der Zweite Hauptsatz der Thermodynamik nicht. Oder man findet eine allgemeine Definition der Entropie, die auch für nicht-ergodische Systeme zunimmt. Der Vorteil des zweiten Weges ist, dass man die Thermodynamik verallgemeinern kann, der Nachteil, dass die neue Entropie nicht mehr so anschaulich ist.
Es gibt inzwischen viele Entropiebegriffe, die Verallgemeinerungen für viele Systeme der Chemie, der Kosmologie und der Biologie liefern. Diesen Weg zu gehen ist ein Gebot der wissenschaftlichen Effizienz. Er gestattet, erfolgreiche Theorien auf immer neue Gebiete auszudehnen.
Gibt es überhaupt “Entropie”?
Dieses wissenschaftliche Effizienzprinzip provoziert allerdings die Frage, ob es denn “die Entropie” tatsächlich gibt, ob Entropie etwas ist, was irgendwie tatsächlich in der Welt da draußen vorhanden ist. Oder handelt es sich nicht viel mehr um ein ganz menschliches, spezifisch wissenschaftliches Ordnungsprinzip, welches grundsätzlich auch durch ein ganz anderes ersetzt werden könnte? Kann man nicht sagen, dass der zweite Hauptsatz der Thermodynamik in seiner Formulierung vom Wachstum der Entropie in abgeschlossenen Systemen eher so etwas ist wie eine Bauanleitung für Theorien? Diese Anleitung würde dann lauten: “Wann immer Wissenschaftler Systeme beschreiben, die mit ihrer Umgebung weder Materie noch Energie austauschen, sollen sie eine Größe definieren deren Änderung gemessen werden kann und bei der dann diese Änderung immer positiv ist. Diese Größe sollen sie Entropie nennen.”
Ein solches Entwurfsprinzip würde allerdings nicht nur für “Entropie” gelten, denn letztlich stellt sich die gleiche Frage ja auch für die “Energie” selbst, und auch für solche physikalischen Konzepte wie “Kraft” und “Materie”. Schon Newtons berühmtes Trägheitsgesetz ist so ein Entwurfsprinzip: “Ein Körper verbleibt in Ruhe oder geradlinig gleichförmiger Bewegung solange keine Kraft auf ihn einwirkt.” Kann auch so gelesen werden: “Sobald du eine Veränderung der Geschwindigkeit eines Körpers bemerkst definiere eine Kraft, deren Wirkung als Ursache für die Geschwindigkeitsänderung anzusehen ist.”
Unversehens hat uns die Betrachtung des Zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik also zu einer interessanten Sicht auf physikalische Grundgesetze überhaupt gebracht: Sie sind weniger als allgemeine Aussagen über grundlegende Elemente der Realität wie Kräfte, Energien, Entropien zu verstehen – vielmehr sind sie Entwurfsprinzipien für Ordnungssysteme die wir uns schaffen, um unsere Erfahrungen und unsere Vermutungen über die Welt zu ordnen.
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