Die Straße zur Realität beginnt bei der Mathematik, und sie endet bei ihr. Diesen Eindruck gewinnt man jedenfalls, wenn man das Inhaltsverzeichnis des Buches “The Road to Reality” von Roger Penrose liest. Abschnitt 1.2 auf Seite 9 heißt “Mathematical Truth” und kurz vor dem Ziel, wenn die Seitenzahl längst die 1000er-Marke durchbrochen hat, finden sich die Überschriften “Mathematical driven fundamental physics” und “Our mathematical road to reality”.
Das Buch ist, trotz seiner Dicke, äußerst lesenswert (und für den Themenkreis, der behandelt wird, ist es noch dünn) – aber man sollte, wenn man über die ersten 10% hinaus will, wenigstens den Mathematik-Leistungskurs im Abi mit Freude und Erfolg absolviert haben. Die Straße zur physikalischen Realität ist mit mathematischen Konstruktionen gepflastert, und das Schuhzeug, das den Wanderer zum Ziel trägt, sollte dem entsprechen.
Aber wenn der Weg zur Wirklichkeit ein mathematischer ist, ist es die Wirklichkeit selbst auch? Und sind diese mathematischen Konstruktionen, seien es natürliche und komplexe Zahlen, Geraden und Manigfaltigkeiten, Vektoren, Tensoren, Hilberträume und Symmetriegruppen, Teil der Realität?
Die Philosophie der Mathematik hat zwei große Fragen:
1. Sind die mathematischen Gegenstände real?
2. Was ist “Wahrheit” in der Mathematik?
Mental oder Platonisch?
Die erste Idee hinsichtlich der Existenz der Gegenstände der Mathematik wäre, sie für Gegenstände des Geistes zu halten: Gedanken-Konstruktionen. Das Problem ist dann aber, dass man über reine Gedankenkonstruktionen kaum ein Urteil fällen kann, ob sie richtig oder unrichtig, wahr oder falsch sind.
Zahlen und Vektoren müssen also irgendwie objektiv sein. Deshalb ist der so genannte Platonistische Ansatz der beliebteste: Mathematische Objekte sind objektive Realität, aber sie haben diese Realität in der “Welt der Ideen”. Diese Ideen-Welt unterscheidet sich von der physischen Welt dadurch, dass in ihr die Gegenstände zeit- und raumlos existieren. Pi hat keinen Ort, und auch keinen Lebenslauf. Die Eulersche Zahl ist objektiv, aber sie ist immer und überall, oder besser nie und nirgends. Raum und Zeit sind einfach nicht bestimmbar für die Gegenstände der Mathematik.
Mathematische Wahrheit
In so einer zeit- und raumlosen Welt der Ideen gelten auch andere Kriterien für die Wahrheit einer Aussage als in der physischen Welt. Ob eine Aussage über die physische Welt wahr ist, kann immer an einem bestimmten Ort und zu einer bestimmten Zeit geprüft werden: Im Experiment. In der platonischen Welt der Ideen gelten aber andere Regeln: Dort ist wahr, was logisch aus den Theoremen, die über die mathematischen Gegenstände formuliert werden, abgeleitet werden kann.
Das Schöne an der mathematischen Ideen-Welt ist, dass sie sich ständig vergrößert, wobei man darüber streiten kann, ob diese Vergrößerung ein Entdecken oder ein Erfinden ist: Waren die komplexen Zahlen schon da, bevor Euler zum ersten Mal gesagt hat, die Wurzel aus -1 sei “i”? Ich persönlich vertrete die Auffassung, dass diese Frage unsinnig ist, weil die platonische Welt ja zeitlos ist, es also gar kein “vorher” und “nachher” gibt.
Die Frage, der man sich jedoch stellen muss, ist die nach der Begründung der logischen Schlussregeln. Wenn die platonische Welt von der physischen getrennt ist, könnte man auch die Notwendigkeit, logische Schlussregeln aus der Alltagswelt in die mathematische zu übernehmen, in frage stellen und in der mathematischen Welt die Vorschriften zum logischen Schließen so betrachten wie andere Theoreme. Wenn man z.B. eine Geometrie findet, die nicht nach den Euklidischen Theoremen funktioniert, warum soll es dann nicht auch eine Logik mit anderen Wahrheitstafeln geben?
Warum die Logik uns “a priori” gegeben zu sein scheint, ist eine Frage, die nicht nur die Philosophie der Mathematik beschäftigt, deshalb soll diese Frage auch hier nicht weiter verfolgt werden. Ebenso nicht die Frage, warum die platonische Ideen-Welt der Mathematik so gut zur physikalischen Welt passt, denn das soll betrachtet werden, wenn es um die Philosophie der Physik geht.
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