Vor einige Wochen erschien in der FAZ ein Artikel von Manfred Lütz, Psychater und Theologe, zum Thema Kindesmissbrauch durch katholische Priester. Walter Mixa, katholischer Bischof in Augsburg und Lieblingsfeind vieler Kritiker der katholischen Kirche, hat Lütz’ Artikel offenbar gut gelesen, bevor er der Augsburger Allgemeinen ein Interview zum gleichen Thema gab, das am Dienstag veröffentlicht wurde.
Es passierte, was in solchen Fällen immer zu passieren pflegt.
Von Spiegel Online bis Freitag stürzt man sich auf einen Satz, den man aus dem Kontext reißt und damit entstellt, die Internet-Gemeinde bei Twitter und in Blogs greift dieses Versatzstück begierig auf, verkürzt es incl. Urteil auf 140 Zeichen und käut das Ergebnis hunderte Male wieder, sich freudig bestätigt findend im eigenen Vorurteil.
Gut, dass es Wissenschafts-Blog-Plattformen gibt, auf denen man sich mit den Originaldokumenten beschäftigen kann.
Zunächst betont Lütz, und Mixa wiederholt das fast wörtlich, die besondere Schwere des Verbrechens Kindesmissbrauch, wenn es von einem katholischen Priester begangen wird:
Sexueller Missbrauch von Minderjährigen durch katholische Geistliche ist ein besonders abscheuliches Verbrechen. Denn ein Priester befindet sich dem Opfer gegenüber in einer Vaterrolle, so dass der Tat etwas Inzestuöses anhaftet.
Mixa formuliert an der entsprechenden Stelle:
Sexueller Missbrauch durch Geistliche ist ein besonders abscheuliches Verbrechen. Das hat Papst Benedikt XVI. deutlich betont, und ich sehe dies ganz genau so. Wenn ein Priester, der sich gegenüber dem Opfer in einer Art Vaterrolle befindet, das Vertrauen von Kindern missbräuchlich ausnutzt, wird das Grundvertrauen in menschliche Beziehungen gestört.
Ich kenne die internen Dokumente der katholischen Kirche nicht und weiß deshalb nicht, ob diese Fomulierungen, wie Mixa es auch andeutet, sozusagen als offizielle Stellungnahme zu lesen sind, oder ob Mixa sich hier tatsächlich direkt auf Lütz stützt. Weitere Parallelen in den Texten zeigen jedenfalls eine sehr weitgehende Übereinstimmung zwischen dem Arzt und dem Bischof.
Die Rolle der 68er
Das gilt allerdings nicht für die Rolle, die den sogenannten 68ern zugewiesen wird. Lütz führt eine Reihe von Fakten an, die belegen, dass in den 1970ern und frühen 1980ern im linken und grünen politischen Spektrum eine Bagatellisierung und Entkriminalisierung der Pädophilie angestrebt wurde. Er schreibt:
1970 erklärte der angesehene Sexualwissenschaftler Eberhard Schorsch unwidersprochen bei einer Anhörung im Deutschen Bundestag: „Ein gesundes Kind in einer intakten Umgebung verarbeitet nichtgewalttätige sexuelle Erlebnisse ohne negative Dauerfolgen.” Die linke Szene hätschelte die Pädophilen. Bevor sich Jan Carl Raspe in die RAF verabschiedete, pries er 1969 im „Kursbuch” die Kommune 2, in der Erwachsene Kinder gegen deren Widerstand zu Koitierversuchen brachten. Bei den Grünen gab es 1985 einen Antrag auf Entkriminalisierung von Sex mit Kindern, und noch 1989 erschien im renommierten Deutschen Ärzteverlag ein Buch, das offen für die Erlaubnis von pädosexuellen Kontakten warb. In diesen Zeiten wurde insbesondere die katholische Sexualmoral als repressives Hemmnis für die „Emanzipation der kindlichen Sexualität” bekämpft.
Sicherlich bestand die linke Szene in den 1970ern und die Grüne Partei der 1980er zu einem großen Teil aus “Alt-68ern” Daraus lässt sich aber nicht, wie Mixa es tut, eine Mitschuld der sexuellen Revolution an pädophilem Verhalten ableiten. Mixa dazu:
Sexueller Missbrauch von Minderjährigen ist leider ein verbreitetes gesellschaftliches Übel, das in vielfältigen Erscheinungsformen von der Familie bis zur Schule oder zum Sportverein auftritt. Die sogenannte sexuelle Revolution, in deren Verlauf von besonders progressiven Moralkritikern auch die Legalisierung von sexuellen Kontakten zwischen Erwachsenen und Minderjährigen gefordert wurde, ist daran sicher nicht unschuldig.
Auch wenn Mixas engagierte Kritiker ihn bewusst falsch zitieren, indem sie nur den zweiten Satz wiedergeben und damit den bezug des Wortes “daran” verfälschen, kann man Mixas Schlussfolgerung natürlich mit guten Gründen zurückweisen. Menschen werden nicht pädophil, weil die sexuelle Revolution oder irgend eine andere äußere Bedingung sie dazu bringt.
Zölibat und Kindesmissbrauch
Wäre das so, dann stünde auch Lütz’ und Mixas Zurückweisung des Zusammenhangs von Zölibat und Kindesmissbrauch auf tönernen Füßen. Dazu schreibt Lütz:
Die Wahrheit ist, dass alle Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen zu tun haben, Menschen anziehen, die missbräuchlichen Kontakt mit Minderjährigen suchen. Das gilt für Sportvereine, Einrichtungen der Jugendhilfe, und natürlich auch für die Kirchen. Einer der führenden Experten in Deutschland, Hans-Ludwig Kröber, sieht keinerlei Hinweis darauf, dass zölibatäre Lehrer häufiger pädophil seien als andere.
…
Und den Zölibat in diesem Zusammenhang zu nennen ist besonders verantwortungslos. Auf einer Tagung 2003 in Rom erklärten die international führenden Experten – alle nicht katholisch -, es gebe keinerlei Zusammenhang dieses Phänomens mit dem Zölibat.
Mixa wiederholt diese Ausführungen fast wörtlich und ergänzt:
Der ganz überwiegende Teil der entsprechenden Sexualstraftaten wird von verheirateten Männern, oft im verwandtschaftlichen Umfeld der Opfer, begangen.
Lütz’ Argumentation ist durchaus plausibel, und sie ist einer Auseinandersetzung mit dem Kindesmissbrauch, die wirklich der Prävention und den Opfern hilft, angemessen. Indem Mixa diese Argumentation wiederholt hat er den Versuch unternommen, durch seine Popularität diese Diskussion zu befördern. Seine Meinung vom Zusammenhang zwischen sexueller Revolution und Kindesmissbrauch ist sicher kritisierbar, aber darüber den Rest des Textes zu verschweigen zeugt davon, dass es seinen Kritikern gar nicht um das Problem des Kindesmissbrauch geht, sondern nur um eine einseitige Verurteilung der katholischen Kirche, die wiedereinmal zum Sündenbock für alle probleme der Gesellschaft gemacht werden soll. Das aber ist, da hat Lütz völlig Recht, “Missbrauch mit dem Missbrauch”.
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