Am Rande der Diskussion um die Theologie ist vor einigen Tagen erneut die Frage aufgetaucht, wie Mathematik und Physik eigentlich zusammenhängen. Gehorcht die Natur mathematischen Gesetzen? Und wenn nicht, warum ist die mathematisch formulierte Physik dann so erfolgreich?
Ich möchte diese Frage anhand eines altbekannten, alltäglichen Beispiels untersuchen: dem Pendel. Die Geschichte des Pendels ist – wie so vieles in der klassischen Physik – mit den Namen Galileo Galilei und Isaak Newton untrennbar verbunden.
Die Legende behauptet, dass dem jungen Galilei etwa 1581 die Pendelbewegung eines Kronleuchters im Dom von Pisa aufgefallen sei. Galilei begann zu experimentieren: Er befestigte unterschiedlich schwere Körper an unterschiedlich langen Fäden und maß die Zeit, welche die so gebauten Pendel für ihre Schwingungsbewegung brauchten. Innerhalb von zwei Jahren kam er zu dem Ergebnis, dass die Dauer der Schwingung nicht von der Masse des Körpers und – wenigstens bei kleinen Auslenkungen – auch nicht vom Auslenkwinkel abhängt sondern nur von der Länge des Fadens, an dem der schwere Körper aufgehängt war.
Das Pendelgesetz war gefunden: Die Dauer der Schwingung eines Pendels ist der Quadratwurzel aus der Länge des Fadens proportional.
Die Bedingungen
Bevor ich den Charakter dieses Gesetzes genauer betrachte möchte ich die Bedingungen, die zum Aufstellen dieses Gesetzes notwendig waren, verdeutlichen. Beginnen wir bei der Legende: Egal, ob es der Kronleuchter im Dom oder vielleicht doch die Hängelampe im Galilei’schen Schlafzimmer war, bemerkenswert ist, dass der Gegenstand, der die Aufmerksamkeit des jungen Wissenschaftlers erregte, bereits ein künstliches, von Menschen produziertes Objekt war. Pendelbewegungen, die lang anhalten und bei denen man tatsächlich eine lang andauernde Schwingung beobachten kann, sind in der freien Natur selten. Die stabile Aufhängung im Haus, die Abwesenheit von Wind, der die Bewegung stören könnte, die Regelmäßigkeit der Konstruktion des Leuchters sind notwendig, um die Gleichförmigkeit der Bewegung überhaupt zu bemerken.
Um sichere Erkenntnisse über das Pendel zu gewinnen, kann Galilei jedoch nicht bei der Beobachtung von Kronleuchtern oder Schlafzimmerlampen stehen bleiben – er muss die Versuchsanordnung weiter vereinfachen und baut dazu neue Pendel, die es ohne seine Fragestellung niemals geben würde: Er befestigt an langen stabilen Fäden schwere Gegenstände unterschiedlichen Materials, die keinen anderen Zweck haben als die Frage zu beantworten, die Galilei bewegt: Wovon hängt die Dauer der Schwingung eines Pendels ab? An keinem pendelnden Ding, das Galilei bereits vorgefunden hat, hätte er diese Frage untersuchen können, weder an der Raupe die am Seidenfaden hängt, noch am Ast, der vom Baum gebrochen ist und nun herunterbaumelt, noch am Kronleuchter im Dom, einerseits, weil er bei ihnen die Pendellänge nicht einfach verändern kann, andererseits, weil die Regelmäßigkeit, die er sucht, eben nur bei Pendeln zu Tage tritt, die aus einem langen Faden und einem schweren Gewicht am Ende bestehen.
Zählen und Messen
Aber noch etwas muss der neugierige junge Italiener bereits haben, um überhaupt zu einer Idee von einem Pendelgesetz zu kommen: Er muss zählen und messen können. Bevor er sein Pendel zusammenbaut, muss er die Länge des Fadens und die Masse des Körpers bestimmen, und während er die Schwingungen seines Pendels zählt, muss er die Zeit, die verstreicht, bestimmen können.
Zum einen bemerken wir, dass Galilei all diese Werte an den Pendeln, die er nicht selbst gebaut hat, nicht hätte bestimmen können. Nur, weil sein Pendel seine Konstruktion, sein Produkt ist, kann er auch die Längen und Massen der Teile bestimmen, und nur, weil er in der ungestörten Ruhe eines Hauses sitzt, kann er immer aufs Neue die Dauer der Schwingung bestimmen.
Zum anderen kommt an dieser Stelle zum ersten Mal die Mathematik ins Spiel: Das Messen und Zählen zeugt ja von der festen Absicht Galileis, eine Regelmäßigkeit in Zahlen, in der Sprache der Mathematik zu erfassen.
Aus der Erfahrung von zwei Jahrtausenden, die Galilei in seiner Ausbildung in Mathematik und aristotelischer Physik gelernt hat, weiß der junge Experimentator zweierlei: Unter gleichen Bedingungen verhalten sich die Dinge immer wieder gleich. Und dieses immer wieder gleiche Verhalten haben die Dinge mit den mathematischen Gebilden gemeinsam. Deshalb ist es klug, das immer wieder gleiche Verhalten der Dinge mit den ewig gleichen und unzerstörbaren mathematischen Begriffen zu beschreiben.
Galilei weiß aber auch: Die immer wieder gleichen Bedingungen findet man nicht draußen in der freien Natur, man findet sie nur in stabil gebauten Gebäuden, in denen massive Kronleuchter von Decken hängen. Nur hier ist die Komplexität der Bedingungen so weit reduziert, dass sich überhaupt zu unterschiedlichen Zeiten die gleichen Bedingungen wieder herstellen lassen. Und will man Beobachtungen machen, die sich wirklich mit Zahlen und Zahlenverhältnissen beschreiben lassen, dann muss man die Konstruktion noch weiter vereinfachen, man muss Apparate bauen, die weder in der Natur je zuvor gesehen wurden, noch in den Häusern Pisas aufzufinden sind. Nur an solchen selbst gebauten Apparaten kann man Regelmäßigkeiten entdecken, die sich in der Sprache der Mathematik beschreiben lassen.
Das ist natürlich kein Nachteil, ganz im Gegenteil: Wir wissen, dass sich mit solchen Apparaten sehr nützliche Dinge anstellen lassen: Galileis Konstruktion, deren Verhalten sich mit den einfachen Mitteln der Mathematik beschreiben lässt, ist z.B. auch das Herzstück jenes Zeitmessers, der mir gegenüber an der Wand hängt und etwas nervend tickt.
Zurück zum Pendelgesetz. Ist es ein “Naturgesetz”? Offensichtlich nicht, denn nichts in der Natur verhält sich so, wie es das “Gesetz” verlangt. Eine ungehorsame Natur, die sich nie wirklich auch nur nach den einfachsten Gesetzen richtet. Auch Galileis Pendel-Bauten haben sich ja nie wirklich nach seinem Gesetz gerichtet. In der Natur, auch wenn wir Galileis Experimentierstube dazuzählen, lassen sich nie konstante Bedingungen herstellen.
Die Grundgesetze
Aber das Pendelgesetz ist noch aus einem anderen Grunde kein Naturgesetz, und das hat mit Isaak Newton zu tun. Der hat, hundert Jahre nach Galilei, mit seinen drei Grundgesetzen der Mechanik dafür gesorgt, dass das Pendelgesetz einfach als Lösung aus den Bewegungsgleichungen “herauskommt”. Die Gesetze, denen alles Mechanische gehorchen soll, sind nun die Newtonschen Grundgesetze, und das “Pendelgesetz” ist nur ein ganz spezieller Fall für bestimmte Situationen, in denen sich ein mechanisches System befinden kann.
Man sagt, das Pendelgesetz sei ein “phänomenologisches Gesetz”, weil es die Regelmäßigkeiten eines beobachtbaren Phänomens beschreibt, während die “Grundgesetze” dieses Verhalten erklären.
Schaut man genau hin, dann gilt das, was für die phänomenologischen Gesetze gilt, aber auch für die Grundgesetze: Auch ihr “Wirken” können wir fast ausschließlich in eigens dafür geschaffenen Apparaten beobachten und selbst da, wo die Natur uns doch einmal selbst die einfachen, fast ungestörten Bedingungen bereitstellt, unter denen die beobachteten Regelmäßigkeiten fast mit unserer mathematischen Beschreibung übereinstimmt , in der Himmelsmechanik nämlich, brauchen wir Apparate zum Messen und Zählen, die wir uns vorher eigens zu diesem Zweck gebaut haben – ganz abgesehen davon dass selbst die Planeten sich auf lange Zeit gesehen nicht an Newtons Grundgesetze halten.
Gibt es Differenziale in der Welt?
Es gibt aber noch einen anderen Grund der gegen die Vorstellung spricht, dass unsere mathematische Beschreibung des Verhaltens der Welt tatsächlich etwas ist, wonach sich diese Welt “richtet” – dass die Mathematik sozusagen irgendwie “in der Welt” ist: Jeder, der in der Schule die Differenzial-Rechnung erlernen muss, weiß, dass ihre Grundidee darin besteht, dass bei immer kleineren Abständen (im Raum und in der Zeit) aus den endlichen Differenzen unendlich kleine Differenziale werden. Die Mathematik der Differenziale, die den Newtonschen Bewegungsgleichungen zu Grunde liegt, funktioniert nur, wenn dieser Übergang zu immer kleineren Abständen und Zeitintervallen kontinuierlich bis zum unendlich kleinen Intervall fortgeführt werden kann. Und jeder weiß, dass das für die Gegenstände unserer realen Welt nicht gilt: Die makroskopisch gleichmäßig wirkenden Objekte lösen sich unter den Mikroskopen in Fasern und Klumpen, bei noch genauerem Hinsehen in Moleküle und Atome auf. Die Grundbedingung für das “Funktionieren” der Mathematik ist also in der Natur nirgends gegeben.
Warum funktioniert mathematische Physik?
Auch wenn also die Natur nicht mathematischen Gesetzen gehorcht, ist es doch sehr verständlich, warum uns die mathematische Physik bei der Weltbeherrschung so gut hilft: Voraussetzung ist, dass wir uns unsere Umgebung so einrichten, dass wir die Regelmäßigkeiten im Verhalten der Dinge überhaupt zählen und messen können. Dann können wir uns zu diesem regelmäßigen Verhalten die passenden mathematischen Konstruktionen suchen. Der kleine Ausflug in die Differenzialrechnung hat gezeigt, dass dieses “Passen” nicht in einer gleichen Struktur von Wirklichkeit und Mathematik begründet sein muss. Es reicht, dass die Zahlen, die beim Messen der überschaubar gemachten Wirklichkeit gefundne werden, in einem ausreichenden Maße mit den Zahlen übereinstimmen, die wir in der Mathematik berechnen können. Diese Übereinstimmung aber hat ihren Grund nicht in geheimnisvollen Naturgesetzen, denen die Dinge gehorchen, sondern darin, dass wir beides selber machen: die experimentellen Bedingungen und die Mathematik, mit der wir die Beobachtungen beschreiben wollen. Und da wir es selbst machen, können wir es uns auch so gestalten, wie wir es brauchen.
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