Computer-Modelle, in denen das Verhalten realer Systeme auf der Grundlage theoretischer Modelle simuliert wird, werden inzwischen in ganz verschiedenen Disziplinen eingesetzt, von der Klimaforschung über die Ökonomie bis zur Chemie und Biologie. Sonnenflecken werden ebenso simuliert wie Teilchenkollisionen.
Aber was können solche Simulationen wirklich über die Systeme sagen, für die sie ein Modell sind? Und warum? Diese Frage untersucht der Hamburger Biochemiker und Philosoph Ulrich Krohs in seinem Aufsatz “How Digital Computer Simulations Explain Real-World Processes” [1].
Krohs geht davon aus, dass es eines der Ziele der Wissenschaft ist, die Dynamik von Teilen der materiellen Welt zu erklären und zukünftiges Verhalten dieser Teile vorherzusagen. Dies geschieht mit Hilfe theoretischer Modelle. Um aus solchen Modellen Vorhersagen über die Dynamik ableiten zu können, muss das Modell analysiert oder (wenn es sich um ein mathematisches Modell handelt) „gelöst” werden. Computersimulationen sind ein Weg, solche Lösungen zu erhalten.
Theoretische Modelle
Unter einem theoretischen Modell versteht Krohs einen Teil einer wissenschaftlichen Theorie, welches ein modelliertes System, meist in formaler Weise, beschreibt. Solche Modelle bestehen aus Entitäten und Aktivitäten, welche die Mechanismen beschreiben, die die Dynamik des Systems hervorbringt. Ein theoretisches Modell hat eine erklärende Funktion, wenn die modellierten Mechanismen tatsächlich die beobachteten dynamischen Phänomene des realen Systems hervorbringt.
Krohs erläutert das am Beispiel der Belousov-Zhabotinsky-Reaktion (BZ-Reaktion), eine chemische Reaktion, bei der periodische Farbwechsel beobachtet werden können. Das theoretische Modell dieser Reaktion besteht aus 14 Reaktionsgleichungen, die den komplizierten chemischen Prozess beschreiben, man kann es jedoch vereinfachen, sodass man ein einfacheres, aus fünf Reaktionsgleichungen bestehendes theoretisches Modell, den Oregonator, erhält.
Ein theoretisches Modell können wir also als eine konkrete Anwendung einer Theorie auf eine spezielle Situation, einen bestimmten Fall verstehen. Wir sehen uns konkrete Gegenstände in einer bestimmten Situation (Entitäten, im Beispiel von Krohs die Chemikalien im Reagenzglas) an und leiten aus der Theorie das Verhalten (die Aktivitäten) dieser Entitäten für diese Situation ab.
Der Oregonator kann in eine mathematische Form gebracht werden, dann besteht das theoretische Modell aus drei Differentialgleichungen. Durch reines Betrachten dieser Gleichungen kann ein Mathematiker schon einiges über die Dynamik des Systems ableiten: Da eine Variable in der zweiten Potenz auftritt kann man annehmen, dass es unter bestimmten Bedingungen oszillierende Lösungen geben muss. Aber welche Bedingungen sind das? Unglücklicherweise kann man das nicht einfach ausrechnen, da das Gleichungssystem nicht analytisch lösbar ist (das bedeutet, man kann sich nicht mit einem Blatt Papier hinsetzen und die Gleichungen so umformen, dass sich für jede Anfangsbedingung und alle möglichen Parameterwerte die zukünftige Entwicklung des Systems ausrechnen lässt). Das ist der Grund, warum man zum Mittel der Computer-Simulation greift, d.h., man überlässt die Berechnung des Modellverhaltens für vorgegebene Anfangsbedingungen und Parameter einem Computer-Programm.
Die dritte Säule der Wissenschaften
Bis zum Einsatz von Computer-Simulationen für wissenschaftliche Zwecke kannte die Wissenschaftler zwei hauptsächliche Arbeitsmethoden: Theorie auf der einen Seite und Empirie (Experiment und Beobachtung) auf der anderen. Wo lässt sich hier die Computer-Simulation einordnen? Offenbar ist sie eine dritte Methode des wissenschaftlichen Arbeitens, die zwischen den beiden “klassischen Verfahren” einzuordnen ist. Die meisten Autoren betrachten Computer-Simulationen als „Experimentieren mit theoretischen Modellen” oder als „numerisches Experimentieren” [2]. Krohs unternimmt im Weiteren den Versuch, zu untersuchen, warum und in welcher Weise sich aus Computer-Simulationen Aussagen über materielle Systeme ableiten lassen.
Simulationen und theoretische Modelle
Simulationen sind in erster Linie dazu da, Lösungen theoretischer Modelle in den Fällen bereitzustellen, wo analytische Lösungen nicht möglich sind, sie werden aber auch verwendet, wenn man zwar analytische Lösungen berechnen könnte, spezielle Erkenntnisziele aber die Verwendung von Simulationen effektiver machen, z.B., wenn man die Abhängigkeit qualitativer Lösungsmerkmale von Parametern beschreiben möchte.
Mathematisch ist das, was in der Computer-Simulation berechnet wird, nicht dasselbe wie das, was das theoretische Modell beschreibt. Das theoretische Modell besteht aus Diffenrentialgleichungen, um sie in einer Simulation berechnen zu können, werden sie z.B. mit Hilfe des Runge-Kutta-Verfahrens in Differenzengleichungen umgewandelt: Aus den unendlich kleinen Differentialen werden endliche Zeitschritte. Dabei treten zwei Sorten von Fehlern auf: Auf der einen Seite stimmt die Lösung der Differenzengleichung nach einem Zeitschritt natürlich nicht exakt mit der Lösung der Differentialgleichung überein. Diesen Fehler könnte man minimieren, indem man die Zeitintervalle immer kleiner macht. Statt das Verhalten des Systems innerhalb von 10 Sekunden mit zehn Zeitschritten von je 1 Sekunde zu berechnen, werden 100 Zeitschritte von je einer zehntel Sekunde berechnet. Unglücklicherweise wird der zweite Fehler größer wenn man den ersten verkleinert: Wegen der endlichen Genauigkeit einer Computer-Simulation bekommt man in jedem Schritt einen Rundungsfehler, dieser ist bei 100 Schritten natürlich 10 Mal größer als bei 10 Schritten.
Es gibt weitere Probleme bei der Ableitung eine simulation aus dem theoretischen Modell: So liefert das theoretische mathematische Modell der BZ-Reaktion für bestimmte Parameter Singularitäten (z.B. sich aufschaukelnde Schwingungen) die im Experiment nicht beobachtet werden – eine Konsequenz der Tatsache, dass das theoretische Modell ja eine starke Vereinfachung der realen Reaktion im Labor ist.
Um dieses Problem bei der Simulation in den Griff zu bekommen, wird das mathematische Modell geändert: Unter bestimmten Bedingungen werden die Veränderungs-Ausdrücke (die Differential-Quotienten) bestimmter Größen einfach auf Null gesetzt – das entspricht zwar nicht dem mathematischen Modell, dafür aber den experimentellen Beobachtungen.
Das theoretische Modell als Vermittler
Wie kann nach diesen Veränderungen am theoretischen Modell noch davon gesprochen werden, dass die Simulation eine Lösung dieses Modells liefert? Um die Beziehung zwischen Modell und Simulation zu verstehen, schlägt Krohs vor, die Blickrichtung umzudrehen:
Regarding the simulation as an empirically given and empirically investigated ‘numerical phenomenon’, the theoretical model can be regarded as a simplified description of the simulation.
Wir stellen uns also vor, dass die Computer-Simulation als reales System schon vorhanden ist. Dann ist das theoretische Modell eine vereinfachte mathematische Beschreibung des Verhaltens dieses realen Systems. Diese Umkehrung des Blickwinkels ist Krohs’ eigentlicher Clou: Die beiden realen Systeme BZ-Reaktion im Labor und Computer-Simulation haben die gleiche mathematische Beschreibung, auf diese Weise wird das theoretische Modell zum Vermittler zwischen Labor und Digital-Computer. Indem beide mit den gleichen mathematischen Gleichungen beschreibbar sind, kann man aus dem Verhalten des einen auch auf das Verhalten des anderen realen Systems schließen.
Im Verlauf der wissenschaftlichen Arbeit wird zwar zunächst aus dem experimentellen Ergebnis das theoretische Modell abgeleitet, aus dem dann wiederum die Simulation konstruiert wird, betrachtet man aber das Ergebnis, dann haben wir zwei Bereiche, in denen experimentiert wird (das Labor und der Computer) denen jeweils ein mathematisches Modell gegenübersteht.
Aus der Computer-Simulation können genau dann Aussagen über die chemischen Prozesse der BZ-Reaktion abgeleitet werden, wenn das mathematische Gleichungssystem, welches als vereinfachtes theoretisches Modell der BZ-Reaktion dient, das gleiche ist, was als vereinfachtes theoretisches Modell der Computer-Simulation (aufgefasst als tatsächlicher und eigenständiger Prozess) entwickelt worden sein könnte. Damit wird auch deutlich, unter welchen Bedingungen wir eine Computer-Simulation als adäquates Modell für einen realen Prozess (seien es Sonnenflecken, Klimaveränderungen oder Verkehrsstaus) angesehen werden kann: Sie müssen ein gemeinsames theoretisches Modell haben.
[1] Krohs, U. (2008). How Digital Computer Simulations Explain Real-World Processes International Studies in the Philosophy of Science, 22 (3), 277-292 DOI: 10.1080/02698590802567324
[2] Empfohlen sei hier das dritte Kapitel von Extending Ourselves: Computational Science, Empiricism, and Scientific Method von Paul Humphreys
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