Es gibt zwei Arten von Theorien: die einen erklären allgemeine Zusammenhänge, sie sind unabhängig von bestimmten konkreten Objekten oder, die anderen erklären, wie sich gerade ein bestimmtes Objekt zu einer ganz bestimmten Zeit entwickelt hat.
Zu der ersten Art gehört z.B. die Newtonsche Gravitationstheorie, die ganz allgemein die Wirkungen, die Körper aufeinander haben, erklärt. Zu der anderen Art gehören z.B. Theorien über die Entstehung unseres Sonnensystems. Die eine Art von Theorien erklärt, wie etwas allgemein “funktioniert”, die andere sagt, wie “es gekommen ist” wie es ist.
Manchmal meint man, die erste Art von Theorien wäre typisch für die Naturwissenschaften, die zweite aber gäbe es nur in den Sozialwissenschaften, aber schon das Beispiel vom Sonnensystem zeigt, dass auch die Naturwissenschaften Theorien des zweiten Typs kennt. Es gibt eine Vielzahl davon: Theorien über die Entwicklung des Klimas, die Entstehung des Menschen, die Entstehung der Alpen, des Mondes, des Sonnensystems und des Universums.
Allgemeine Theorien brauchen zu ihrer Bestätigung das Experiment: Man nimmt ein paar von Objekten der Sorte, die man allgemein beschrieben hat, beobachtet ihr Verhalten in einer kontrollierten Beobachtungssituation und vergleicht diese Beobachtungen mit dem, was die Theorie über das Verhalten solcher Objekte vorhersagt.
Für die Theorien, die uns die großen Berichte über die Vergangenheit liefern sollen, ist das nicht ganz so einfach: Experimente sind hier nahezu ausgeschlossen (wobei Simulationen hier einen gewissen Ersatz bieten können, aber das ist eine andere Geschichte). Um solche Theorien zu prüfen, brauchen wir empirische Befunde, die wir deuten können. Und für diese Deutungen brauchen wir wieder Theorien des ersten Typs.
Ein Beispiel: Bei Ausgrabungen finden wir ein paar Reste von Knochen. Unter anderem mit Hilfe einer Theorie über radioaktiven Zerfall können wir deren Alter bestimmen. Das ist der eine Aspekt der Deutung. Mit Hilfe unserer allgemeinen Evolutionstheorie versuchen wir, die Knochen in einen Stammbaum von Lebewesen einzuordnen. Die Evolutionstheorie ist sozusagen unser Deutungsrahmen, in den wir die Befunde einordnen wollen.
In den meisten Forschungsbereichen haben wir ein zusammenhängendes Set von allgemeinen Theorien und Berichts-Theorien. Wenn neue empirische Befunde nicht in dieses Set passen, müssen wir entweder die allgemeinen Theorien ändern, die als Deutungsrahmen dienen, oder die Bestimmungsmethoden infrage stellen oder den Bericht über die vergangenen Ereignisse ändern. Die Entscheidung fällt den Wissenschaftlern natürlich oft nicht leicht – und man muss sich klar darüber sein, dass das immer Entscheidungen sind, die auch anders getroffen werden könnten.
Aus diesem Grunde verwundert es nicht, dass Theorien, die Entstehungsgeschichten über konkrete Objekte erzählen, immer wieder revolutionär umgeschrieben werden müssen. Eric Hand berichtet in der Nature 464, Seite 150-151 (2010) z.B. von einer Konferenz, bei der die Geschichte der Entstehung des Mondes aufgrund neuester Befunde umgeschrieben werden muss. Ein schönes Beispiel dafür, wie komplex so eine Situation ist: Aus einer allgemeinen Theorie über die Entstehung von Himmelskörpern, in die wiederum eine Vielzahl von allgemeinen physikalischen und chemischen Theorien einfließen, wird eine mögliche Geschichte über die Entstehung des Mondes abgeleitet. In dieser Geschichte ist der Mond „knochentrocken” – sein Gestein dürfte quasi kein Wasser enthalten.
Erste Untersuchungen von Gesteinsproben fanden auch kein Wasser. Nun aber wurde, bei erneuter Untersuchung, doch Wasser gefunden – und die Geschichte der Entstehung des Mondes muss vielleicht neu geschrieben werden.
Die Theorien, welche uns sagen „wie etwas gekommen ist” sind deshalb so wichtig, weil sie der große Prüfstein dafür sind, ob wir die Welt wirklich verstehen, nicht nur den teil, den wir uns davon abgezweigt und umgestaltet haben. Nur wenn das der fall ist, können wir auch sagen, dass wir eine begründete Vorstellung davon haben, was auf uns zu kommt, sei es beim Klima, bei den Erdbeben und Vulkanen, die unsere Erde formen, oder was unser Schicksal in kosmologischen Zeiträumen betrifft. Gerade bei diesen Theorien sind wir aber sehr unsicher, und vor großen Überraschungen nie gefeit.
Umso wichtiger ist, dass solche Geschichten nicht im Brustton der Überzeugung erzählt werden, egal, ob es um die Entstehung des Universums, des Sonnensystems, des Mondes, des modernen Menschen, der Stadt Rom oder des Hauskaninchen geht. Aus unserem Wissen über die Vergangenheit ziehen wir die Gewissheit, auch etwas über die Zukunft sagen zu können. Wer hinsichtlich der Vergangenheit immer in Behauptungssätzen spricht, sich aber ständig berichtigen muss, dem glaubt man nicht, wenn er über die Zukunft etwas sagen will. Wer aber über die Vergangenheit im Konjunktiv und mit plausiblen Gründen spricht, dem glaubt man auch, wenn er über die Möglichkeiten und Risiken der Zukunft etwas sagt.
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