Es ist die Schuld der Meteorologen. Der eine ist namenlos, der andere ist gut bekannt: Edward Lorenz, dessen Veröffentlichungen aus den 1960er Jahren zu den Gründungsurkunden der “Chaostheorie” zählen.
Vorbemerkung: Lorenz’ Seemöwe
In einem Artikel von 1963 schreibt Lorenz ganz am Schluss:
Ein Meteorologe bemerkte dass wenn diese Theorie korrekt wäre ein einziger Flügelschlag einer Seemöwe die Entwicklung des Wetters für immer verändern würde. Die Kontroverse ist noch nicht entschieden, aber die neuesten Belege sprechen für die Seemöwen. (Alle Übersetzungen von mir)
Wer aus den Seemöwen später Schmetterlinge gemacht hat, kann dahingestellt bleiben. Auch dass Hilborn [1] gezeigt hat, dass der Effekt schon viel früher als Grashüpfereffekt beschrieben wurde, soll nur am Rande erwähnt werden. Jedenfalls gilt Lorenz mit dieser Bemerkung als Vater des Schmetterlings-Effektes.
1969 kam Lorenz [2] noch einmal ausführlicher auf den namenlosen Meteorologen zurück. Lorenz untersucht in dieser Arbeit detailliert, wie auch schon in dem berühmten Aufsatz “Deterministic Nonperiodic Flow” von 1963 , wie die Lösungen von mathematischen Modellen, die die Dynamik von Flüssigkeiten oder Gasen beschreiben, von kleinen Störungen in den Anfangsbedingungen (die z.B. vom Flügelschlag eines Schmetterlings oder einer Möwe ausgelöst werden) abhängen. Da die Entwicklung solcher Systeme unter bestimmten (in der Realität häufigen) Bedingungen weder linear noch periodisch ist, können diese kleinen Störungen zu völlig unterschiedlichen Zuständen des Systems in der Zukunft führen. Lorenz schreibt 1969 dass aus seiner aktuellen Studie zu folgen ist, dass der Flügelschlag der Möwe innerhalb von 17 Tagen das Wetter vollständig geändert hat. Und:
Wir können aus dieser Studie ebenfalls gut schließen, dass ein Flügelschlag einer Seemöwe das Verhalten aller Cumuluswolken innerhalb einer Stunde ändern kann.
Da allerdings nicht einmal Schallwellen in dieser Zeit in entfernte Teile des Globus gelangen, sei diese Schlussfolgerung kaum zu akzeptieren, vielmehr müsse man nach den Modelleigenschaften suchen die es für dieses spezielle Problem ungeeignet machen.
Die kausale Begründung
Lorenz wäre hier allerdings auch aus einem anderen Grund zu widersprechen. Das Paradoxon, dass er hier ausspricht, weist auf eine unzulässige Verwendung des Konzepts der Kausalität, welches sich in den Formulierungen “Handlung A führt zu Effekt B” (Der Flügelschlag führt zu anderem Wetter) oder “A ändert das Verhalten von B” (Der Flügelschlag ändert das Verhalten der Wolken) zeigt. Zugespitzt wird diese Verwendung in der populären Formulierung des Schmetterlingseffekts, ein Flügelschlag eines Schmetterlings könne einen Orkan auslösen. Auch wenn diese Formulierung, soweit ich das überblicke, nicht von Lorenz stammt, folgt sie doch logisch aus seiner Arbeit. Unter bestimmten kritischen Bedingungen kann der eine Wetterzustand, der nach 17 Tagen erreicht wird, einen Orkan enthalten, der unter den anderen Bedingungen nicht da ist. Wenn man sagt, der eine Wetterzustand sei durch eine kleine Störung wie z.B. einen Flügelschlag ausgelöst worden, dann gilt das auch für den Orkan, der darin enthalten ist.
Logisch lässt sich dieses Kausalitätskonzept folgendermaßen fassen:
Gegeben sind zwei Systeme, die sich in allem gleichen. An dem einen wir eine kleine Veränderung vorgenommen. Wenn dann in dem einen System etwas beobachtet wird, was in dem anderen nicht beobachtet wird, dann ist die kleine Veränderung die Ursache dieser Beobachtung.
Dieses Kausalitätsverständnis ist für die experimentelle Naturwissenschaft grundlegend. Jedes Experiment basiert darauf, die Anfangsbedingungen reproduzierbar und die Randbedingungen konstant zu halten und eine kontrollierbare Änderung vorzunehmen, deren Auswirkungen dann untersucht werden. Diese Änderung wird zur Ursache der Wirkung erklärt.
Genau dieses Kausalitätsverständnis liegt auch Lorenz’ Überlegungen zugrunde. Dass die Schlussfolgerung des namenlosen Meteorologen zum Paradoxon wird, liegt daran, dass dieses Konzept von Kausalität eben bei nicht-kontrollierbaren Systemen wie der Atmosphäre nicht funktioniert.
Kommen wir noch einmal zu Lorenz zurück, der ja Meteorologe war und sich deshalb dieser Schwierigkeiten wahrscheinlich doch bewusst war. Nicht umsonst schreibt er eben nicht, dass der Flügelschlag einen Orkan auslöst, sondern dass er zu einem ganz anderen Wetterzustand führt. Wir könnten sagen, dass die Entstehung eines Orkans mit oder ohne Flügelschlag ziemlich gleichwahrscheinlich ist, aber der genaue Zeitpunkt der Entstehung und die genaue Zugbahn des Orkans hängen von der Möwe ab (und nicht nur von der einen, darauf verweist Lorenz auch, sondern von den Flügelschlägen und den Positionen aller Möwen.
Der Kausalitätsbegriff der hier verwendet werden muss, muss also immer alle Anfangsbedingungen und alle Randbedingungen aufführen. Sie alle zusammen führen zu einem bestimmten Effekt. Das stimmt natürlich auch für die Experimente im Labor, welche allerdings Randbedingungungen konstant halten und Anfangsbedingungen kontrollierbar lassen (und Möwen wie Schmetterlinge aussperren). Das kann zu der falschen Redeweise führen dass es das ist, was da gerade geändert wird, das den Effekt hervorruft.
Danksagung
Wer bis hierher gefolgt ist, der fand diese Überlegungen vielleicht ebenso interessant wie ich selbst, als ich gestern Abend die alten Sonderdrucke der Lorenz-Artikel aus Stapel der Literatur zu meiner Diplomarbeit von 1989 herausgesucht habe. Mir zeigt das, dass auch die absurdeste und ärgerlichste Diskussion eine Anregung zu philosophischen Gedanken sein kann, dafür geht mein Dank an die Kommentatoren vom gestrigen Tag bei Jörg Rings.
[1] Hilborn, R. (2004). Sea gulls, butterflies, and grasshoppers: A brief history of the butterfly effect in nonlinear dynamics American Journal of Physics, 72 (4) DOI: 10.1119/1.1636492
[2] LORENZ, E. (1969). The predictability of a flow which possesses many scales of motion Tellus, 21 (3), 289-307 DOI: 10.1111/j.2153-3490.1969.tb00444.x
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