Für die Wissenschaft als ganzes, wenigstens jedoch für die Disziplinen, die als empirische Wissenschaften bezeichnet werden, wird oft gesagt, das Wissen, welches sie verwalten und vermehren, stütze sich auf Empirie, auf experimentelle Erfahrung und auf systematische Erfassung der Realität. Und in der Tat spielt das Experiment bei der Begründung wissenschaftlicher Theoriesysteme offenbar eine große Rolle. Experimente stützen Theorien, Experimente stellen Theorien in Frage, Experimente führen zur Entwicklung neuer Theorien.
Aber wie funktioniert das genau? Wessen Wissen wird durch wessen Experimente gestützt?
Das Kind
Nur ein ganz kleiner Teil des Wissens eines Wissenschaftlers stützt sich auf seine eigenen Erfahrungen. Zunächst einmal ist da das Wissen des Alltags. Schon als Kind lernt ein Wissenschaftler, wie jeder Mensch, durch praktische Erfahrungen dass es jeden Morgen hell wird, dass die Herdplatte heiß wird, dass Fliegen zu schnell sind um sie mit der Hand zu erschlagen, dass man sie aber mit der Fliegenklatsche erwischen kann. Dass an der einen Wand des Zimmers ein Bild hängt und der Baum, der auf dem Bild zu sehen ist, kein echter Baum ist, weil man ihn nicht umfassen, sein Blätterrauschen nicht hören, seine Blüten nicht riechen kann, während auf der anderen Seite des Zimmers ein Fenster ist, hinter dem ein echter Baum zu sehen ist, lernt der Wissenschaftler als Kind wie jedes andere Kind durch Hinrennen, Anfassen, Hören, Schmecken, Riechen.
Für dieses Wissen entwickelt niemand eine Theorie, auch nicht der kleine Hochbegabte. In ein fremdes Zimmer gesetzt, mit fremden Bildern an der Wand und einem fremden Garten vor dem Fenster, erkennt das Kind schon bald und intuitiv, was ein Bild, was ein Fernseher und was ein Blick aus dem Fenster ist. Man kann diese Prozesse selbst natürlich wissenschaftlich erforschen, man kann Theorien über diese Vorgänge entwickeln, aber das sind dann nicht die „Theorien” über die das Kind verfügt, um aus seinen Beobachtungen zu schlussfolgern, dass man auf den einen Baum hinaufklettern kann, während man den anderen zerreißen oder ausschalten kann.
in der Lehre
In der Schule schaut das neugierige Kind dann der Lehrerin zu, wie sie z.B. Kugeln eine Schräge hinunterrollen lässt und die Zeit dabei stoppt. Später dürfen die Schüler diese Experimente dann nachmachen. Während des Studiums, wenn der junge Mensch sich allmählich im Wissenschaftler-Sein einübt, wird das unter dem Namen „Praktikum” fortgesetzt. Es lohnt sich, die Erfahrungen, die dabei gemacht werden, ein wenig genauer zu betrachten.
Was bei den Experimenten herauskommen soll, steht in Lehrbüchern. Manchmal wird vom Lehrenden (aus didaktischen Gründen) zuerst das Experiment gemacht, es werdn Zeiten gestoppt, Temperaturen gemessen, Widerstände und Stromstärken abgelesen, Diagramme gezeichnet. Das Ergebnis soll einem mathematischen Zusammenhang entsprechen – in den seltensten Fällen tut es das wirklich. Spätestens in diesem Moment erfahren die Wissens-Novizen, was eigentlich wirklich herauskommen müsste: nämlich das, was die Theorie sagt. Die Theorie sagt das, nach Auskunft des Lehrenden, weil bei früheren, großen Könnern der Disziplin die Experimente immer das richtige Ergebnis hatten, auch wenn sie hier und heute aus erklärbaren Gründen nicht ganz so erfolgreich sind.
Für das Praktikum gibt es Zensuren und gute Zensuren gibt es für richtige Ergebnisse. Die richtigen Ergebnisse stehen in den Büchern. Fleißige Studierende, die gute Wissenschaftler werden wollen, bereiten ihre Experimente gut vor, wer weiß, was beim Experiment herauskommen sollte, der wird es auch herausbekommen.
Die meisten Experimente, auf die sich das wachsende Wissen unserer nachwachsenden Wissenschaftler stützt, haben sie natürlich nie ausprobiert, weder erfolgreich, noch erfolglos. Welcher Physiker hat schon selbst die Rotverschiebung nachgemessen oder sich mit Michelsons Experiment selbst davon überzeugt, dass es keinen Ätherwind gibt.
Das brauchen unsere Nachwuchsforscher auch nicht zu tun: Glaubwürdige Autoritäten haben ihnen davon berichtet, und in leinengebundenen dicken Büchern, auf denen z.B. „Experimentalphysik” steht, mit vielen Abbildungen, Fotos und schematische Strichzeichnungen, konnten sie sich davon überzeugen. Sie wissen auch: Welches Buch sie auch aufschlagen, welche Autorität sie auch befragen, sie alle werden ihnen glaubhaft versichern, dass diese Experimente tausendmal ausgeführt wurden und immer zum richtigen Ergebnis führten.
Auch für das Wissen über den Verlauf dieser Experimente gibt es Noten, und wer die Berichte aus den Lehrbüchern gut wiedergeben kann, wer sie mit den Ausführungen des Prüfers aus dessen eigener Vorlesung ergänzen kann, bekommt auch gute Noten. Und wer gute Noten bekommt, der bekommt auch Gelegenheit, unter Anleitung des klugen Lehrers einmal selbst die Stufen des Katheders zu erklimmen.
Bleibt zu ergänzen, dass auch die anderen Praktiken des Wissenschaftlers so gelernt werden, durch Studium der Bücher, durch Lernen der Regeln, wie richtig zu schlussfolgern, wie korrekt zu argumentieren ist. Autoritäten, deren Reputation und deren erfolgreicher Lebensweg für sich spricht, lehren es geduldig und streng, und am Ende prüfen sie die Aspiranten, ob sie alles richtig verstanden haben und bereit sind, nach den Grundsätzen, die ihnen gelehrt wurden, ihr Leben lang zu verfahren.
Der Forscher
Aber wenn der junge Mensch auf diese Weise irgendwann einmal ein richtiger Forscher geworden ist, wenn er seine Grade erworben hat, ein Magister, ein Doktor gar sich nennt, wird er dann sein Wissen durch empirische Erfahrungen vermehren? Leider nein: Nun sind es zwar nicht mehr die dicken Lehrbücher sondern die dünnen „Paper” aus denen er sein Wissen schöpft, aber es ist – zumeist – noch immer Papier, oder es sind die Buchstaben und Diagramme, die der Bildschirm ihm als Resultat der Arbeit anderer vor die Augen bringt. Natürlich gibt es keinen Grund, diesen Fakten zu misstrauen, die Autoren sind Seinesgleichen, oft namhafte, Autoritäten, und all die Ergebnisse sind – wiederum von Seinesgleichen, nach unbestechlichen und objektiven Kriterien geprüft. Alle haben die Regeln der Disziplin, das Wissen, das Experimentieren, das Schlussfolgern auf die gleiche Weise gelernt, wie man selbst, und niemandem ist zu misstrauen, da man sich selbst doch schließlich auch nicht misstraut.
Aber irgendjemand muss doch die Experimente, auf die die Wissenschaft sich stützt, wirklich machen, irgendwer muss doch die empirische Erfahrung beisteuern, auf die sich die Wissenschaft stützt! Schlagen wir, mit bangem Hoffen, eine der letzten Nummern von Nature auf, blättern wir die „Articles” und „Letters” durch, die von Experimenten berichten. Sie haben – im Durchschnitt – jeweils ein Dutzend Autoren, die Hälfte davon war – im Durchschnitt – in die Experimente involviert. Sie haben Proben in Apparate gegeben, deren Funktionsweise in Büchern beschrieben ist, sie haben Messungen an Instrumenten durchgeführt, deren Messverfahren auf Theorien basiert, die man in Lehrbüchern nachliest, sie haben Diagramme und Zahlenreihen auf Bildschirmen beobachtet, die von einer Software produziert wurden, die ein anderer programmiert hat.
Das alles ist das Wissen des modernen Wissenschaftlers, das ist die Erfahrung, auf die sich die empirische Wissenschaft stützt.
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