In einer Vorlesung unter dem Titel “Pragmatismus. Eine offene Frage” zitiert Hilary Putnam den Philosophen, der als der eigentliche Begründer des modernen Pragmatismus gelten kann, William James:
Das Wahre ist, um es kurz zu sagen, nichts anderes als das, was uns auf dem Wege des Denkens vorwärts bringt … Denn was der gegenwärtigen Erfahrung entspricht, das wird einer künftigen Erfahrung vielleicht nicht in gleich befriedigender Weise entsprechen.
Dieser pragmatistische Standpunkt scheint mir für die Wissenschaft ein verlockendes Angebot zu sein. Er verbindet Wahrheit zum einen mit dem Prozess des Denkens, zum anderen mit der Erfahrung – und zwar mit der jeweils aktuellen Erfahrung.
Aus der Sicht des James’schen Pragmatismus sind wir berechtigt, einen Satz wahr zu nennen, wenn er uns in unserem aktuellen Denken, welches sich mit unseren bisherigen Erfahrungen befasst, vorwärts bringt, wenn er uns nützlich ist. Nützlich ist ein Satz, eine Behauptung, eine Theorie, wenn sie uns hilft, in der Welt zurecht zu kommen, weil unser Denken voran gebracht wird.
Das Denken kann natürlich nur durch neue Sätze wirklich vorangebracht werden. Damit James Wahrheits-Konzept Sinn hat, muss das Denken erst mal durch die Erfahrung an eine Grenze gestoßen sein. Wenn dann ein Gedanke auftaucht, der mein Denken voranbringt, und wenn er das auf Dauer tut, dann sind wir berechtigt, diesen Gedanken als wahr zu bezeichnen.
Das hat viele interessante Konsequenzen. Wahrheit ist dann immer historisch gebunden. Newtons Theorie hat das Denken vorangebracht, war also wahr. Für jeden, der sie lernt und damit die Bewegung materieller Körper besser versteht, ist sie wahr, weil sein Denken vorangebracht wird.
Man könnte sogar soweit gehen zu sagen, dass die Relativitätstheorie, wäre sie zu Zeiten von Newton formuliert worden, aus pragmatistischer Sicht nicht wahr gewesen wäre. Sie wäre schlichtweg sinnlos, sie hätte das Denken nicht vorangebracht.
Deshalb hat Putnam auch Recht, wenn er schreibt:
Zu sagen, Wahrheit sei „Übereinstimmung mit der Realität” ist nicht falsch, sondern leer solange nichts darüber gesagt wird, was die „Übereinstimmung” ist. … James meint, Wahrheit müsse so beschaffen sein, dass wir sagen können, wie es uns möglich ist, sie zu begreifen.
Die Frage ist also nicht, ob irgendetwas wahr sein kann ohne dass irgendwer etwas davon weiß. Wahrheit ist ja immer nur strittig über Aussagen, die schon gemacht wurden – Und die Frage nach der Wahrheit ist immer nur die Frage nach der Bestätigung, nach der Rechtfertigung der Behauptung. Voraussetzung dafür, dass ich den Wahrheitsgehalt einer Aussage überhaupt beurteilen kann, ist, dass ich die Aussage überhaupt verstehe und dass ich eine Vorstellung davon habe, wie man sie überprüfen kann. Die Relativitätstheorie wäre zu Newtons Zeiten unverständlich gewesen und niemand hätte auch nur eine Idee gehabt, wie man sie überprüfen könnte.
Deshalb kommt der Wahrheits-Begriff wohl ohne den Bestätigungs-Begriff nicht aus.
Zu verstehen, was in einem gegebenen Fall Wahrheit ist, und zu verstehen, was Bestätigung ist, sind ineinander verwobene Fähigkeiten.
schreibt Putnam. Bestätigung scheint für einen Pragmatisten wiederum der Nachweis zu sein, dass die fragliche Behauptung dem Nachdenken über das empirisch gegebene – zumindest auf lange Sicht – voran bringt.
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