Die Ärztin, zu der ich gehe, wenn ich erkältet bin oder der Rücken schmerzt, hat auf ihr Praxis-Schild auch das Wort “Naturheilverfahren” schreiben lassen. Und ein Freund, der mich bei einem Bandscheiben-Vorfall im Urlaub einmal toll betreute, macht “Chirotherapie”. Beide haben Medizin studiert und beide plaudern gern mit mir über ihre Arbeit.
Die Ärztin hat mir letztens ein paar weiße Kügelchen aus einem Fläschchen mitgegeben, weil ein Fieber seit Tagen und trotz einer Behandlung mit einem Antibiotikum nicht verschwand. Als ich sie spöttisch ansah, meinte Sie: “Ich weiß, Sie glauben nicht, dass das hilft. Probieren Sie es trotzdem.” Sie hat mir auch Vitaminpräparate empfohlen, die waren ziemlich teuer.
Die Kügelchen hab ich irgendwann weggeworfen, die Vitamine hab ich genommen und kauf sie mir noch heute. Es steht drauf, dass sie gegen “Burnout” auch helfen, manchmal kaufe ich aber auch die, die speziell für Männer sind. Das Fieber ist inzwischen weg – ob es noch einen Tag oder eine Woche gedauert hat, weiß ich jetzt nicht mehr.
Im Studium haben meine Ärzte gelernt, was – jedenfalls statistisch gesichert – gegen welche Krankheit hilft. Und sie haben auch gelernt, warum das so ist. Oder warum das vielleicht so ist – denn vieles weiß man gar nicht.
In ihrer Praxis gibt es keine Statistik, da gibt es nur einzelte Patienten, und irgendwie sehen die Krankheiten bei jedem anders aus. Manchmal ist es ganz einfach: ein Blick in den Hals, ein zweiter Blick aufs Thermometer, ein Klick mit der Maus und schon kommt das richtige Rezept aus dem Drucker. Manchmal ist das, was der Patient erzählt, was die Instrumente anzeigen, was der Arzt sehen, hören und fühlen kann, ein Rätsel. Dann muss er probieren, er verschreibt ein Mittel und sagt: „Kommen Sie in drei Tagen wieder, aber wenn Sie Magenschmerzen kriegen, dann kommen sie gleich her oder rufen mich an.”
Manchmal geht es dem Patienten dann besser, manchmal schlechter und manchmal ändert sich gar nichts. Das Rätsel bleibt.
Meine Ärztin spricht auch manchmal mit anderen Ärzten, und sie redet viel mit ihren Patienten (manchmal zu viel, ich bin schließlich ein viel beschäftigter Unternehmer und Blogger und habe wenig Zeit). Manchmal erzählt ihr jemand, dass bei ihm in einem bestimmten Fall eine ungewöhnliche Behandlung geholfen hat. Meine Ärztin denkt dann darüber nach, sie liest darüber oder besucht eine Fortbildung. Wenn sie einmal auf einen Patienten trifft, bei dem das Rätsel so ähnlich aussieht, dann versucht sie, es auf eine neue Weise zu lösen.
Inzwischen hat meine Ärztin viele Patienten, denen es nach der Einnahme von kleinen weißen Kügelchen besser geht. Und die Patienten meines Freundes sind ganz begeistert von der Chirotherapie. Auf meine Frage nach dem Wirkmechanismus schauen sie mich mit einer Mischung aus Unsicherheit und Unverständnis an. Sie erzählen mir dann Dinge, die ich weniger gut verstehe als wissenschaftliche Erklärungen. Manchmal fragen sie mich auch, ob sie ihre Patienten vielleicht nur mit Verfahren behandeln sollten deren Wirksamkeit statistisch oder wissenschaftlich belegt ist – dann, so meinen sie, hätten sie vielen Patienten nicht helfen können.
Ich weiß nicht, ob ich das akzeptieren kann. Aber ich kann es verstehen.
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