An der Frage, die diesem Text den Titel gab, scheiden sich offensichtlich die Geister – allerdings in einem ganz anderen Sinn als man vielleicht vermuten könnte. Angesichts der Tatsache, dass die Aussagen der Quantenmechanik oft unanschaulich und wenig intuitiv erfassbar sind, könnte man vermuten, dass Menschen, die Laien oder wenigstens keine absoluten Experten auf dem Gebiet der Quantenphysik sind, die Frage eher verneinen, während Quantenphysiker selbst sie wohl mit “Ja” beantworten würden. Aber es ist genau umgekehrt.
Schaut man in die Kommentarspalten bei den ScienceBlogs, vor allem hier bei den Arte-Fakten dann wird man immer wieder kritische Kommentare finden die sich für die Position stark machen, dass die Quantenmechanik natürlich ein realistisches Bild der Welt liefert. Aber was sagen die Physiker selbst dazu?
Ich hatte schon einmal auf das wunderbare Buch The Road to Reality (inzwischen gibt es auch eine deutsche Teilübersetzung für Seiteneinsteiger die ich allerdings nicht kenne) von Roger Penrose hingewiesen. Penrose schreibt zu der Frage, ob die Entitäten der Quantentheorie reale Dinge beschreiben auf Seite 507:
Are the dynamical variables ‘real things’? Are the states ‘real’? … In fact, quantum physicists tend not to be very clear about this issue. Most of them are distinctly uncomfortable about adressing the issue of ‘reality’ at all. … All that we should ask of our formalism, they might claim, would be that it give answers to appropriate questions that we may pose of a system, and that those answers agree with observational fact. [Sind die dynamischen Variablen “reale Dinge”? Sind die Zustände “real”? … Tatsächlich neigen Quantenphysiker nicht sehr zur Klarheit zu diesem Thema. Den meisten von ihnen ist die Frage der “Realität” überhaupt deutlich unangenehm. … Alles, was wir von unserem Formalismus verlangen sollten, wäre eine Behauptung von ihnen, wäre Antworten zu geben auf geeignete Fragen, die wir über ein System stellen können, und dass diese Antworten mit Beobachtungsdaten übereinstimmen.]
Vielleicht könnte man meinen, diese Fähigkeit einer Theorie, Antworten geben zu können, die mit Beobachtungsdaten übereinstimmen, bedeutet doch, dass die Theorie die Realität richtig beschreibt. Aber das, so Penrose, sehen seine Kollegen nicht so. Auf Seite 783 schreibt er:
It is a common view among many of today’s physicists that quantum mechanics provides us with no picture of ‘reality’ at all! The formalism of quantum mechanics, on this view, is to be taken as just that: a mathematical formalism. This formalism, as many quantum physicists would argue, tells us essentially nothing about an actual quantum reality of the world but merely allows us to compute probabilities for alternative realities that might occur. [Es ist eine verbreitete Ansicht unter vielen der heutigen Physiker, dass die Quantenmechanik uns überhaupt kein Bild der “Realität” liefert! Der Formalismus der Quantenmechanik, nach dieser Ansicht, ist ist nicht anderes als folgendes: ein mathematischer Formalismus. Dieser Formalismus, wie viele Quantenphysiker behaupten würden, sagt uns im Grunde nichts über eine tatsächliche Quantenrealität der Welt, sondern ermöglicht es uns lediglich, Wahrscheinlichkeiten für alternative Realitäten, die auftreten könnten, zu berechnen.]
Quantenmechanik ist also in dieser Sichtweise nichts weiter als ein mathematischer Formalismus, wie auch David Albert in seinem Buch Quantum Mechanics and Experience (Seite 17) schreibt:
There is an algorithm (and the name of this algorithm, of course, is quantum mechanics) for predicting the behaviours of physical systems [Es gibt einen Algorithmus (und der Name dieses Algorithmus ist natürlich Quantenmechanik) für die Vorhersage des Verhaltens physikalischer Systeme]
Scließlich noch ein Zitat des berühmten Stephen Hawking zum Thema (zitiert bei Penrose, Seite 785):
I don’t demand that a theory correspond to reality because I don’t know what it is. Reality is not a quality you can test with litmus paper. All I’m concerned with is that the theory should predict the results of measurements. [Ich verlange nicht, dass eine Theorie der Realität entspricht, weil ich nicht weiß, was es ist. Die Wirklichkeit ist nicht eine Qualität, die Sie mit Lackmuspapier testen können. Alles woran ich interessiert bin ist, dass mit der Theorie die Ergebnisse von Messungen vorherzusagen sind.]
Wie kann es sein, dass Laien und selbst Physiker, die nicht unmittelbar auf den Gebiet der Quantenphysik arbeiten, der Meinung sind, dass Quantenmechanik die Realität beschreibt während die Mehrzahl der Quantenmechaniker dies bestreitet oder die Frage danach für irrelevant oder gar für “unwissenschaftlich” hält?
Es fällt auf, dass solche Standpunkte wie die oben zitierten kaum zu hören sind, wenn Experten sich in der Öffentlichkeit zu ihren Forschungen äußern. Man stelle sich vor, jemand vom LHC sagt: “Wir machen all diese Experimente weil wir in unseren Gleichungen noch ein paar Dutzend freie Parameter haben, die wir gern bestimmen würden, damit wir die Ergebnisse von anderen Messungen richtig vorhersagen können.” Das sagt keiner, man spricht lieber vom “Higgs-Teilchen” das man finden möchte, weil dieses das ist, was allem seine Masse “gibt”. Oder einer würde sagen: Wir haben ausgerechnet, dass bei diesem Experiment im LHC in 700 km Entfernung mit gewisser Wahrscheinlichkeit eine Messung X aufgezeichnet werden müsste, die Richtigkeit dieser Berechnung wollen wir zeigen.” So spricht keiner, statt dessen sagt man, dass man die Umwandlung eines Myon-Neutrinos in ein Tauon-Neutrino beobachtet habe. Damit aber behauptet man natürlich, über “reale Dinge” zu sprechen, Teilchen, die zwar irgendwie unanschaulich und mysteriös sind, aber wirklich existieren.
Warum sprechen die Physiker mit “gespaltener Zunge”? Weil das Publikum die Wahrheit nicht versteht? Oder weil es sie vielleicht nicht erträgt? Oder vielleicht, weil sie selbst die Wahrheit, die ihre größten Köpfe klar formuliert haben, nicht ertragen und nicht verstehen?
Ich vermute, es ist von allem etwas. Aber ich halte diesen Zustand für unerträglich. Die Geschichten von den Teilchen, die da erzeugt oder umgewandelt werden, sind Märchen und daran ändert auch nichts, dass sie von denen, die sie erzählen, vielleicht selbst geglaubt werden. Letztlich schadet das nicht nur der Reputation der Physik sondern auch der Physik selbst. Penrose sieht das ganz klar. Er hält die Frage nach der Realität für entscheidend, und er glaubt letztlich, dass es eine neue Theorie geben muss, eine Theorie, die tatsächlich das Attribut “realistisch” wieder verdient.
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