Was haben das Humboldt-Forum in Berlin und der Kernfusionsreaktor ITER in Südfrankreich gemeinsam? Unglaublich viel, so viel sogar, dass man sich fragt, ob beides, aus einem bestimmten Blickwinkel betrachtet, nicht das Gleiche ist.
Die erste Ähnlichkeit fällt sofort auf, wenn man sich den jeweiligen Ort des Geschehens ansieht: Im Wesentlichen befindet sich sowohl da, wo das Humboldt-Forum entstehen soll als auch an der Stelle, an welcher der Reaktor gebaut werden soll, eine riesige, gut planierte Freifläche. Trotzdem gibt es sehr schöne Ansichten von beiden Bauten: In Computer-Simulationen sind sowohl das zukünftige Zentrum der Kultur- und Geisteswelt als auch der das zukünftige Zentrum der Energie-Technologie bereits virtuelle Realität geworden.
Beide Orte sollen für die Zukunft unserer Zivilisation eine bedeutende Rolle spielen. Dem Austausch der Kulturen bietet das Forum einen Platz, damit wird es einen Beitrag zur Bewältigung von kulturellen Krisen leisten. Der Fusions-Reaktor ist der Ort, an dem Energie-Krisen und Umwelt-Krisen bewältigt werden sollen. So stehen die beiden Vorhaben für den großen Anspruch der nachhaltigen Krisenbewältigung für die ganze Menschheit – ihre Umsetzung verheißt eine glücklichere und sorgenfreiere Zukunft.
Gemeinsam ist den beiden aber auch, dass die tatsächlichen Erfolge ungewiss sind, und dass sie in weiter Zukunft liegen. Und damit werden die Visionen von morgen zu den Investitionen von heute. Auch als Investitionen mit ungewissem Ertrag haben das Forum im Herzen Berlins und der Reaktor in der französischen Provinz einiges gemeinsam.
Da ist zum Beispiel die Tatsache, dass beide Projekte im Laufe der Planungen immer teurer werden, dass, ohne das auch nur ein Stein bewegt wird, die veranschlagten Kosten explodieren. Kaum ist eine Genehmigung zum Weiterplanen erteilt, wachsen die finanziellen Mittel, die für den Erfolg gebraucht werden, in ungeahnte Höhen. Dieses Phänomen haben die beiden Projekte nicht nur miteinander, sondern mit fast allen politisch geförderten Vorhaben gemein. Die erwarteten Erträge aber, die ohnehin in weiter Ferne liegen und ungewiss bleiben, wachsen nicht mit.
Die Politik begegnet dieser Kostenexplosion mit Einspar-Ideen. Beim Forum kann man an der Ausgestaltung oder der Fassade sparen, den Reaktor verkleinern. Das führt dann irgendwann dazu, dass das ganze Projekt infrage gestellt wird. Ein halber Reaktor ist genauso sinnlos wie ein Forum ohne Dach.
Deshalb gelangten nun beide Projekte innerhalb von wenigen Tagen in die Schlagzeilen. Wo unklaren Visionen in ferner Zukunft handfeste Kosten in Milliardenhöhe im Hier und Jetzt gegenüberstehen, da wird die Frage laut, wer das große Projekt eigentlich wirklich will – und warum. Aktuelle Umfragen zeigen fast zeitgleich: Weder wollen die Berliner das Forum, noch steht die Kernfusion ganz oben auf der Wunschliste, die die Deutschen an die Wissenschaft richten.
Politiker haben sich immer gern in Visionen gesonnt. Damit aber ist nun, der Schuldenkrise sei Dank, Schluss. Die Wähler merken, dass sie die goldenen Zeiten, in denen die Visionen wahr sein werden, gar nicht mehr erreichen werden, dass die Politik ihren Staat vor lauter Visionen ruiniert. Sie vermuten – völlig zu recht – dass die Welt nicht besser und nicht schlechter wird, wenn es keine Kernfusion und kein Humboldt-Forum gibt. Angesichts dieser Tatsache verzichten sie lieber auf teure Luft-Schlösser.
Aber kann eine Gesellschaft auf Visionen verzichten? Ist der Verzicht auf Diskurs und Fortschritt nicht der Anfang vom Niedergang einer Gesellschaft, die auf Dynamik und Veränderung basiert? Die Frage ist, ob wir uns das Risiko des Verlustes der Investition leisten wollen. Risikobereitschaft ist Voraussetzung für Dynamik. Solche Bereitschaft hat aber nur, wer sich seiner eigenen Kräfte noch sicher ist. Die Frage ist also nicht, ob wir uns den Kredit, den wir zur Bebauung der brachliegenden Flächen in Berlin und Frankreich benötigen, noch leisten können, sondern ob wir es uns überhaupt noch zutrauen, ihn jemals zurück zu zahlen.
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