Dies ist der erste Teil eines fünfteiligen Textes über ein spannendes Kapitel Quantenmechanik. Im ersten Teil werde ich den Hintergrund der Geschichte und das eigentliche Problem erläutern. Die verschiedenen Stationen des Geschehens gibt es dann am nächsten Freitag. In den drei folgenden Teilen, immer pünktlich zum Wochenende, werde ich einige wissenschaftsphilosophische Konsequenzen diskutieren.
Die Geschichte, die sich hinter dem Kürzel EPR verbirgt, feiert in diesem Jahr ihr Diamantenes Jubiläum. Vor 75 Jahren verfassten die Physiker Einstein, Podolsky und Rosen ihren legendären Artikel, in dem sie die junge Quanten-Mechanik, insbesondere in der Form, die als Kopenhagener Deutung berühmt geworden ist, grundsätzlich infrage stellten. Obwohl eine Reaktion der Kopenhagener nicht lange auf sich warten lies, dauerte es Jahrzehnte bis jemand eine adäquate Behandlung des Problems, das die drei aufgeworfen hatten, vorschlug, und es dauerte noch einmal mehr als ein Jahrzehnt bis experimentell gezeigt werden konnte, dass die drei im Unrecht waren. Erst in den letzten Monaten sind nun Ideen aufgetaucht, wie man diese experimentellen Befunde sogar technisch nutzen kann – Befunde, die es vielleicht gar nicht gäbe, wenn die die drei vor 75 Jahren nicht ihre Kritik formuliert hätten, wenn Bell diese Kritik nicht nach Jahrzehnten beunruhigt hätte und wenn Aspect schließlich nicht eine experimentellen Antwort auf Bells Frage gefunden hätte.
Die Vorgeschichte
Beginnen wir mit dem bekannten Prinzip der Komplementarität. Nach diesem Prinzip gibt es für quantenmechanische Systeme Eigenschaften, deren Werte nicht gleichzeitig genau bestimmt werden können. Das berühmteste Paar solcher Eigenschaften sind Geschwindigkeit und Ort: Wenn der Ort eines Teilchens exakt bestimmt wird, kann über seine Geschwindigkeit keine Aussage gemacht werden und umgekehrt. Über den Zustand, in dem sich so ein Teilchen vor der Messung befindet, kann nichts gesagt werden: Es ist nicht nur so, dass man nicht weiß welche Geschwindigkeit und welchen Ort das Teilchen hat, es hat vor der Messung gar keinen Sinn, von einem Ort oder einer Geschwindigkeit des Teilchens zu sprechen.
Weiterhin ist es eine Frage des Zufalls, welcher Wert bei einem solchen Teilchen tatsächlich gemessen wird. Mit diesem Zufall hat es seine besondere Bewandtnis: Er ist nicht der Ungenauigkeit unserer Apparate geschuldet oder dem mangelnden Wissen über die tatsächlichen Umstände, in denen sich unser Teilchen befindet, sondern er ist quasi fest in die Theorie eingebaut, er ist grundsätzlich nicht auszuschalten.
Es gibt noch mehr solcher komplementären Eigenschaften von Teilchen, die quantenmechanisch beschrieben werden. Auch wenn das Paar Geschwindigkeit-Ort das bekannteste ist, ist es für die Verständlichkeit der folgenden Darstellung besser, auf ein anderes Paar zu wechseln.
Polarisiertes Licht
Ein schönes Beispiel, das man inzwischen auch aus dem Alltag kennt, ist die Polarisation von Licht. Wer eine Sonnenbrille mit Polarisationsfilter und ein Notebook hat, kann es ausprobieren: Sonnenbrille aufsetzen und auf den Bildschirm schauen. Dann den Kopf zur Seite neigen: Das Bild wird schwächer und verschwindet bei einem bestimmten Winkel ganz. Dreht man den Kopf von hier aus um 90° weiter (die nicht ganz so gelenkigen Leser dürfen den Kopf auch in die andere Richtung neigen), wird das Bild wieder heller und ist bei 90° am hellsten.
Jetzt bitte wieder richtig hinsetzen, Hals einrenken und weiterlesen. Was passiert hier? Der Bildschirm sendet polarisiertes Licht aus. Stellen wir uns dazu die Lichtquanten als kleine Schwingungen vor (man darf sich auch bei der Quantenmechanik hin und wieder was vorstellen, das Problem ist nur, dass die Vorstellungen nie alle zusammen möglich sind). Normales Licht besteht aus Lichtquanten, die in alle möglichen Richtungen schwingen, bei polarisiertem Licht schwingen alle Quanten in die gleiche Richtung.
Der Polarisationsfilter, so scheint es, lässt nur Quanten einer bestimmten Schwingungsrichtung durch. Das stimmt aber irgendwie auch nicht, denn die Lichtintensität nimmt ja allmählich ab, wenn man den Kopf vor dem Bildschirm neigt.
Hier die quantenmechanische Erklärung: Wenn das Licht-Teilchen gegen den Polarisationsfilter knallt, schaltet es sein Polarisation um: entweder auf die Richtung, mit der es „durchkommt” oder auf die Richtung, in der es komplett „verschluckt” wird. Man kann nämlich zeigen, dass die Photonen, die durchkommen, danach die gleiche Energie haben wie vorher, und alle sind genau nach der Richtung des Polarisationsfilters ausgerichtet. Das kann man dadurch zeigen, dass ein weiterer Filter, genau in Richtung des ersten ausgerichtet, nun alle Photonen durchlässt.
In welche Richtung ein Photon umschaltet, ist eine Sache des Zufalls, des oben beschriebenen absoluten, nicht zu überlistenden Zufalls.
Verschränkung
Jetzt sind wir schon ganz dicht dran an EPR, wir sind schon in jenem legendären Jahr 1935. In diesem Jahr schrieb Schrödinger (der 1935 auch seine berühmte Katze aus dem Sack lies) das erste Mal etwas über „verschränkte Systeme”. Er zeigte, dass quantentheoretisch auch Systeme beschrieben werden können, die aus mehreren Teilchen bestehen, deren Zustand nicht unabhängig voneinander ist. Solche verschränkten Teilchen verhalten sich noch merkwürdiger als es quantenmechanische Teilchen ohnehin schon tun: Man weiß z.B. von beiden Teilchen zwar nicht, wie groß ihre Geschwindigkeit ist, weder von dem einen, noch von dem anderen, aber man weiß, wie groß der Unterschied in den Geschwindigkeiten ist. Oder man weiß eben von beiden Teilchen nicht, wo sie sind, aber man kennt die Entfernung, die sie voneinander haben.
Wenn ich nun den Ort des einen Teilchens messe, dann kenne ich auch den Ort des anderen Teilchens. Und wenn ich die Geschwindigkeit des einen messe, dann kenne ich auch die Geschwindigkeit des anderen. Und da kamen Einstein, Podolsky und Rosen ins Spiel.
Realität und Vollständigkeit
Die 1930er Jahre, das waren die goldenen Jahre. Damals schrieben Physiker in einem gerade einmal 4seitigen Artikel (ganz ohne Fußnoten) noch eine Seite über philosophische Probleme. Einstein, Podolsky und Rosen formulierten vor ihrer Kritik an der Quantenmechanik erst einmal ihre Ansprüche an eine physikalische Theorie: Komplett soll die Theorie sein, und dafür formulierten sie ein notwendiges Kriterium
every element of the pysical reality must have a counterpart in the physical theory [Jedes Element der physikalischen Realität muss eine Entsprechung in der physikalischen Theorie haben]
Was aber ist ein „Element der Realität”?
If, without in any way disturbing a system, we can predict with certainty (i.e., with probability equal to unity) the value of a physical quantity, then there exists an element of physical reality corresponding to this physical quantity [Wenn wir, ohne ein System in irgend einer Weise zu stören, eine physikalische Größe mit Sicherheit (also mit einer Wahrscheinlichkeit von 100%) vorhersagen können, dann gibt es ein Element der Realität, dass dieser physikalischen Größe entspricht]
Das klingt vielleicht merkwürdig, ist aber plausibel. Wenn jemand z.B. den Sonnenaufgang für morgen in Münster genau berechnen kann dann deshalb, weil er die Drehgeschwindigkeit der Erde kennt und weil diese Drehgeschwindigkeit eine reale Eigenschaft der Erde ist (die genauen erkenntnistheoretischen Konsequenzen dieser wenigen Sätze werde ich in einem späteren Teil dieser Serie besprechen).
Ein Gedankenexperiment
Mit dieser Überlegung machten sich die drei an die verschränkten Systeme. Folgendes Gedankenexperiment schlugen sie vor: Zwei verschränkte Teilchen werden voneinander getrennt, sodass keine Wechselwirkung zwischen ihnen möglich ist. Nun misst man von dem einen den Ort. Damit weiß man auch von dem anderen den Ort ganz genau, ohne es zu stören. Man kann sich aber auch entscheiden, bei dem ersten Teilchen die Geschwindigkeit zu messen – dann weiß man, ohne es zu stören, auch vom zweiten Teilchen die Geschwindigkeit. Da das zweite Teilchen aber durch die Messung des ersten nicht beeinflusst war, muss es schon seit dem Moment der Verschränkung die Eigenschaften sowohl für die Festlegung der Ortsmessung als auch für die Bestimmung der Geschwindigkeit haben. Das aber widerspricht der Quantenmechanik die sagt, dass man vor der Messung nichts über den Ort und die Geschwindigkeit eines Teilchens sagen kann.
Man kann es sich auch einfacher machen: Nach der Quantenmechanik ist der tatsächlich gemessene Wert eine Frage des Zufalls, für das zweite Teilchen ist aber die Geschwindigkeit kein Zufall mehr, sobald die des ersten gemessen wird, es sei denn, man nimmt an, dass die Messung des Teilchens 1 gleichzeitig und sofort auch die Geschwindigkeit des zweiten Teilchens festlegt, obwohl beide Teilchen nicht miteinander wechselwirken können!
Die Schlussfolgerung von Einstein, Podolsky und Rosen war klar: beide Teilchen müssen die Eigenschaften, die letztlich bei der Messung Geschwindigkeit und Ort jedes Teilchens festlegen, schon in dem Moment festliegen und „Element der Realität” sein, wenn die Teilchen sich verschränken, bevor sie voneinander getrennt werden.
Es ist, so meinten sie, also keine Frage des Zufalls, keine Frage der Unbestimmtheit, welche Werte die Eigenschaften in den Messungen wirklich annehmen. Es müssen irgendwelche Eigenschaften im Verborgenen sein, die von der Quantenmechanik nur nicht beschrieben werden. Da die Quantenmechanik diese verborgenen Eigenschaften nicht beinhaltet, so folgerten die drei, kann sie noch nicht vollständig sein.
Fortsetzung am nächsten Freitag.
Einstein, A., Podolsky, B., & Rosen, N. (1935). Can Quantum-Mechanical Description of Physical Reality Be Considered Complete? Physical Review, 47 (10), 777-780 DOI: 10.1103/PhysRev.47.777
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