Das philosophische Problem des wissenschaftlichen Realismus ist zunächst eine Variation über das Problem des erkenntnistheoretischen Realismus überhaupt. Dann ist die Frage nach dem wissenschaftlichen Realismus ganz unmittelbar eine Konkretisierung der Kant’schen Frage: „Was kann ich wissen?” Man kann, ausgehend von der Frage, ob wir überhaupt etwas Wahres über die Dinge in der Welt wissen können, darüber nachdenken, ob Wissenschaft uns vielleicht einen besonderen Weg zur wirklichen Welterkenntnis liefert.
Es geht beim erkenntnistheoretischen Realismusproblem nur sehr selten um die Frage, ob es eine Welt außerhalb meines Bewusstseins überhaupt gibt. Auch die Behauptung, dass meine Handlungen und Gedanken letztlich durch diese Außenwelt beeinflusst, geprägt und begrenzt sind, ist meist unstrittig. Die Diskussion dreht sich vielmehr um den Punkt, inwiefern meine Gedanken tatsächlich von der Welt da draußen handeln können oder ob meinem Bewusstsein das eigentliche Wesen der Dinge nicht verschlossen bleiben muss. Die Tatsache, dass das Wirken der Welt auf mich immer durch meine eigenen Empfindungen und durch meine ganz persönlichen Interpretationen dieser Empfindungen vermittelt wird, macht es zunächst problematisch anzunehmen, dass in meinem Denken überhaupt um die Welt da draußen gehen kann. Eine abgeschwächte Form gesteht zu, dass es zwar prinzipiell möglich ist, dass in meinem Denken die Welt wie sie ist repräsentiert wird, stellt aber fest, dass diese Frage letztlich unentscheidbar bleibt und es deshalb unsinnig ist, solche Annahmen zu treffen.
Davon ausgehend kann das Realismus-Thema in Bezug auf die Wissenschaft in zwei Richtungen variiert werden: Zum Einen ist eine bloße Anwendung des jeweiligen erkenntnistheoretischen Standpunktes auf die Wissenschaft möglich. Das kann dann z.B. heißen, dass auch die Inhalte von wissenschaftlichen Theorien nicht Tatsachen an sich repräsentieren sondern dass diese ebenfalls immer nur Konstruktionen des Geistes sind, deren Beziehung zur Außenwelt noch weit vermittelter ist als es ohnehin im Alltag schon der Fall ist. Auf diese Weise kann man z.B. hinsichtlich der Gedanken über die Alltags-Welt noch Realist sein, hinsichtlich wissenschaftlicher Theorien aber einen realistischen Standpunkt ablehnen.
In all diesen Diskussionen geht es – unabhängig vom Wünschen und Wollen der betroffenen Personen und auch unabhängig von deren Überzeugungen – um die Frage ob und in welchem Sinne wir überhaupt in der Lage sind, mit unseren Gedanken, Hypothesen und Behauptungen Wahres über die Welt auszusagen.
Allerdings könnte man auch von einer anderen der drei großen Fragen Kants ausgehen um sich dem Problem des Realismus in den Wissenschaften zu nähern: Was soll ich tun? Was darf ich hoffen? Dann stellt sich das Realismus-Problem gerade in Bezug auf die Wissenschaften auf andere Weise. Es stellt sich die Frage, ob wissenschaftliche Theorien als realistische Theorien formuliert werden sollen oder ob man gerade auf diesen Anspruch verzichten solle.
Unabhängig davon, woran man eine realistische Theorie im Detail erkennt und was es eigentlich heißt, realistische Aussagen in einer Theorie zu machen kann man sicherlich sagen: Eine realistische Theorie behauptet, dass die Welt (wenigstens idealisiert oder näherungsweise) tatsächlich so ist wie es die Theorie aussagt, dass das, was die Theorie enthält, wirklich existiert, dass diesen Inhalten Realität zukommt. Es gibt viele große Beispiele für die Wirkmächtigkeit realistischer Theorien bzw. für die Kraft, die von realistischen Argumentationen gegen Theorien ausgeht. Das Kopernikanische Weltbild gewann seine (subversive) Kraft eben nicht aus den besseren Ergebnissen bei der Berechnung der Planetenpositionen sondern aus seinem Anspruch, eine richtige Beschreibung der Welt zu sein. Umgekehrt wurde das Phlogiston nicht aus der Chemie verbannt, weil es eine unzureichende Rechen-Konstruktion war, sondern weil sich seine Existenz nicht nachweisen lies, und auch der Lichtäther wurde verworfen, weil man die Messergebnisse (zu seiner Zeit) nicht mit realistischen Vorstellungen von einem kontinuierlichen Schwingungsmedium vereinbaren konnte.
Andererseits gibt es genauso viele Beispiele in der Wissenschaftsgeschichte, bei denen ein Festhalten am Realismus dem Fortschritt der Disziplin scheinbar hinderlich war. Einsteins Ablehnung der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik gilt hier als Paradebeispiel. Mit seinem Satz „Der Alte würfelt nicht.” machte sich der Revolutionär der Physik des 20. Jahrhunderts zum Gespött einer Physikergeneration, die hinsichtlich des Realismus ihrer Theorien ziemlich unbekümmert daherkam. Und der Erfolg schien ihnen zunächst Recht zu geben.
Heute ist die Unbekümmertheit verschwunden, und zeitgleich mit der Vermutung, dass Theorienentwicklung, die auf realistische Ansprüche verzichtet, in eine Sackgasse führt, werden die Rufe nach realistischen Konzepten wieder lauter. Aber wie können realistische Theorien überhaupt aussehen. Das Paradoxon ist: „Realität” scheint selbst zu einem Konzept zu werden, das erst entwickelt werden muss.
Damit gelangt man unversehens wieder zum erkenntnistheoretischen Realismusproblem zurück. Auch wenn sich erkenntnistheoretisch das Grundkonzept von „Realität” als Konstruktion, als Bewusstseins-Inhalt, dessen Bezug zur Welt da draußen ungewiss ist, herausstellt, brauchen wir für die Wissenschaft einen stabilen Realitätsbegriff, um voranzukommen. Wie ein solcher Begriff gebildet und begründet werden kann, ist die offene Frage.
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