Seit dem ich bei Scienceblogs schreibe, taucht immer wieder in den Diskussionen ein Argument auf, das mich irritiert: Äußert irgend jemand einen leisen oder lauten Zweifel an der Richtigkeit einer physikalischen Theorie oder an der Lauterkeit aller am wissenschaftlichen Betrieb beteiligten, so meldet sich über kurz oder lang ein “Verteidiger der Wissenschaften” der erwidert, dass man schließlich ohne diese gescholtene Physik gar keinen Computer hätte, auf dem man seine Kritik schreiben könnte, und kein Internet, um diese Kritik zu verbreiten.
In diesem Argument, oft ergänzt durch die Forderung, die Nutzung von Computer und Internet einzustellen (die Älteren unter uns hören ein fernes Echo des Satzes “Geh doch rüber in die Sowjetunion…”) schwingt die Forderung mit, dass wir der Naturwissenschaft und ihren Errungenschaften erst mal dankbar sein sollten für all das, was sie uns ermöglichen, und dass diese notwendige Dankbarkeit ja wohl jede kritische Nachfrage erübrige.
Dann liege ich immer schlaflos in der Nacht und frage mich: Warum kann ich nicht dankbar sein?
Vielleicht zuerst, weil ich dann so vielen dankbar sein müsste. Den Computer und das Internet verdanke ich ja nicht nur den Physikern, sondern auch den Unternehmern von IBM und Microsoft (wer ist Bill Gates dankbar und wofür?), die mit den Erfindungen Geld verdienen wollten, den Bastlern und Lötern, der Rüstungsindustrie. Wo soll meine Dankbarkeit enden? Und wie soll ich sie gegen meine Ängste und Sorgen vor Kernreaktor-Unfällen, Atombomben, Allergien, Killerspielen auf den Computern meiner Kinder, Klimawandel, Luftverschmutzung aufrechnen?
Wenn Wissenschaftler immer wieder darauf verweisen, dass sie nur aus Neugier Mechanismen der Natur verstehen und erklären wollen, dass ihnen Beherrschung und Benutzung für Böses ebenso fern liegt wie die unerfreulichen Nebenwirkungen technischer Entwicklungen, dann können sie doch auch die Segnungen technischer Entwicklungen nicht für sich reklamieren.
Ich gönne ihnen allen ihren Spaß: den Wissenschaftlern, die Uran mit Neutronen beschießen und am LHC Protonen-Strahlen ineinander jagen, den Bastlern, die mit oder ohne Kenntnis der Theorien Maschinen und Computer bauen, den Unternehmern, die Geld damit verdienen wollen. Ich weiß, ich muss mit den Folgen leben, im Guten wie im Schlechten, ich werde sie nicht ändern. Und ich bin einer von ihnen, indem ich ihnen zuschaue, mir meine Gedanken darüber mache, was sie da tun, und laut darüber rede. Daran habe ich meinen Spaß.
Hätte ich weniger Spaß, wenn die Wissenschaft keine Theorien aufstellten? Eigentlich eine sehr akademische Frage. Aber: Ich glaube kaum. Die Bastler würden noch immer basteln, die Unternehmer würden noch immer Geld verdienen wollen. Sie würden etwas anderes entwickeln, würden hier langsamer und dort schneller sein (man glaubt ja gar nicht, wie oft eine Theorie, indem sie sagt, dass etwas nicht geht, den technischen Fortschritt auch behindert), aber sie würden mich genauso in Beschlag nehmen, mir ungefähr ebenso viel Freude und Angst machen, wie ich jetzt habe.
Und selbst wenn ich auf den ganzen wissenschaftlichen Fortschritt verzichten müsste, den mir die Wissenschaft des 19. und 20. Jahrhunderts eingebrockt hat: Dann würde ich in Bücher statt im Internet nach Wissen suchen, ich würde Briefe schreiben statt Mails (und länger drüber nachdenken, bevor ich etwas versende), dann würde ich – zugegeben – mit keinem MartinB, keinem Ockham, keinem georg und keinem roel diskutieren können, statt dessen würde ich mit Menschen, von denen ich Alter, Name, Weingeschmack und Augenfarbe kennen würde, im Kerzenschein oder am Feuer sitzen und diskutieren, die Kinder um uns herum wären nicht so gesund wie unsere, aber es wären mehr.
Aber ich lebe in dieser Welt, so wie sie ist. Das ist in Ordnung. In dieser Welt gibt es – warum auch immer – den Computer und das Internet. Da ich kein Einsiedler bin, benutze ich sie. Aber ich muss niemandem dankbar sein.
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