Ich bin vor ein paar Tagen gefragt worden, wie grundsätzlich meine Wissenschaftskritik sei. Die Antwort lautet: Das kommt ganz darauf an, was unter Kritik verstanden wird. Das Wort “Kritik” ist in Verruf geraten und bevor man mal eben, die Zielrichtung der Frage wohl verstehend, betont, man sei selbstverständlich kein Feind der Wissenschaften, lohnt es sich, die Frage zum Anlass zu nehem um dem alten Wort “Kritik” wieder zu mehr Ehre zu verhelfen. Dann wird sich herausstellen, dass der Wissenschaft nichts willkommener sein kann, als permanente grundsätzliche Kritik.
Vor 230 Jahren, als Immanuel Kant die erste seiner drei großen Kritiken schrieb, kam noch niemand auf die Idee dass die Kritik eines Gegenstandes etwas mit dessen Ablehnung zu tun haben könnte. Kritik, so kann man dem sehr schönen Wikipedia-Eintrag entnehmen, kommt aus dem Griechischen und hat etwas mit “auseinanderhalten”, “unterscheiden” und “trennen” zu tun, im philosophischen Sprachgebrauch beinhaltet eine Kritik das Finden der Bedingungen der Möglichkeit eines Gegenstandes.
Kritik bedeutet also zunächst, den Gegenstand von anderen Gegenständen abzugrenzen, ihn zu unterscheiden oder unterscheidbar zu machen. Was ist Wissenschaft, was ist wissenschaftlich, was ist hingegen als nicht-wissenschaftlich zu betrachten? Für eine solche Unterscheidung benötigt man Kriterien (ein Wort, das den gleichen griechischen Wortstamm hat wie Kritik), und nach diesen Kriterien kann man eine vorliegende Sache dann beurteilen.
Eine Kritik kann dabei aus ganz verschiedenen Perspektiven an einen Gegenstand herangehen, ja, das Aufzeigen solcher unterschiedlichen Blickwinkel ist schon ein Teil der Kritik. Bei der Wissenschaft können wir nach den Methoden ihres Vorgehens fragen, wir können nach den Zielen der Menschen fragen, nach den Strukturen ihres Betriebs. An all dem kann die Kritik ansetzen. Eine kritische Analyse kann die Rolle einer Institution in der Gesellschaft ebenso betreffen wie ihre Wesens-Merkmale und Funktionsweisen.
Eine Kritik kann natürlich immer Überraschendes zutage fördern, kann bisherigen, unkritischen Urteilen widersprechen. Das mag dazu führen, dass mancher die Kritik als Provokation oder als Ablehnung empfindet. Ich glaube inzwischen nicht mehr an die allgemeine Überzeugungskraft des rationalen Diskurses. Das liegt weniger daran, dass ich meine Argumente für zwingend halte und mich ständig darüber wundere, dass sie so Wenige überzeugen, sondern vielmehr daran, dass ich auf allen Seiten häufig wenig Neigung empfinde, dem Anderen auch nur zuzuhören und seine Ansicht auch nur als bedenkenswert einzuschätzen – und ich nehme mich da selbst gar nicht aus.
Kritik erreicht überhaupt nur diejenigen, die noch keine Überzeugungen haben, oder diejenigen, die ihre schon Überzeugungen verloren haben. Auf dem Weg zu neuen Überzeugungen sind wir offen für Kritik, weil wir hoffen, in den kritischen Analysen eben Kriterien zur Strukturierung des Unübersichtlichen zu finden.
Die Kritik hilft deshalb am meisten dem Kritiker selbst. Im Zuge seiner Kritik destruiert er seinen Gegenstand um in den gefundenen Grundelementen etwas zu finden, was ihm neuen Halt gibt. Zwischendurch mag das Chaos groß sein, aber die Hoffnung ist, das am Schluss ein Holzweg durchs Dickicht gefunden wird oder gelegt werden kann.
Und gerade bezogen auf die Wissenschaft scheint eine solche Kritik nötig, kann sie gar nicht grundsätzlich genug sein. Wissenschaft ist Ursache – wenn auch niemals allein – großer Hoffnungen und großer Ängste. Sie bestimmt uns in unseren Möglichkeiten und unseren Begrenzungen. Sie scheint alles zu können und doch ist nichts sicher. Was soll wichtiger sein als grundsätzliche Wissenschaftskritik, gerade für einen, der die Wissenschaft liebt und den die Ergebnisse der Wissenschaft (in jedem Sinne) schaudern lassen?
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