In Diskussionen um den Realismus der Quantenmechanik taucht immer mal wieder die Frage auf, ob das Problem des Realismus nicht eigentlich nur eines der Interpretation der Theorie ist, und weniger die Theorie selbst betrifft. Damit ergibt sich die Frage, was in diesem Zusammenhang eigentlich eine Interpretation ist und in welchem Verhältnis sie zur eigentlichen Theorie, aber auch zu deren mathematischem Formalismus und zu den Experimentellen Befunden steht.
Erstaunlicherweise taucht das Problem der Interpretation überhaupt erst mit der Quantenmechanik in der Physik auf, Newtons klassische Mechanik unterschied ebenso wenig zwischen Theorie und Interpretation wie die klassischen Feldtheorien und die Relativitätstheorien.
Beginnen wir trotzdem mit den physikalischen Theorien vor der Quantenmechanik, damit deutlich wird, wozu eine Theorie möglicherweise eine Interpretation braucht.
Theorie ohne Interpretationen
Jede physikalische Theorie besteht zunächst einmal aus ein paar Kernbehauptungen über das Verhalten eines physikalischen Systems. Diese Kernbehauptungen können in einer – scheinbar – mathematik-freien Sprache formuliert werden, scheinbar deshalb, weil sie in Sätzen formuliert werden, die “Je … desto…” Klauseln enthalten und damit auch in mathematischen Gleichungen formuliert werden können: “Je stärker die Kraft, die auf einen Körper wirkt, desto stärker die Beschleunigung des Körpers.” Dabei ist auch der Begriff “Beschleunigung” als “Änderung der Geschwindigkeit in einem festen kleine Zeitabschnitt” und der Begriff der Geschwindigkeit (“Änderung Ortes des Körpers in einem festen kleine Zeitabschnitt” wiederum ebenfalls in einer – scheinbar – mathematikfreien Sprache definierbar.
Die Aussagen der Theorie können in mathematische Gleichungen übersetzt werden, in einen mathematischen Formalismus (im Falle der klassischen Mechanik ist das der der Differentialrechnung und der partiellen Differentialgleichungen). Dann können alle mathematischen Erkenntnisse, die für diesen Formalismus entwickelt wurden, in der Theorie verwendet werden.
Der entscheidende Punkt ist, dass alle Ausdrücke, die in diesem mathematischen Formalismus stehen, aufgrund des Vorgehens bei der Aufstellung des Formalismus eine unmittelbare empirische Bedeutung haben: Wir wissen, das die Orst- und Zeitangaben im mathematischen Formalismus den Ort eines Körpers zu einem bestimmten Zeitpunkt betreffen und dass die Masse eines Körpers eben jenem “m” in Newtons Gleichung entspricht. Deshalb brauchen wir da keine Interpretation, wenn wir die Orte der beteiligten Körper zu einem Zeitpunkt kennen, dann liefert uns der Formalismus eben die Orte der Körper zu einem späteren Zeitpunkt und wir können im Experiment direkt nachsehen, ob die Theorie die richtigen Vorhersagen macht.
Die Dynamik in der Quantenmechanik
So ist das bei allen Theorien der Physik gewesen, bis die Quantenmechanik kam.
Die Dynamik quantenmechanischer Systeme wird allerdings ebenfalls durch eine relativ einfache Gleichung beschrieben, die Wellengleichung (Schrödingergleichung) die so heißt, weil sie mathematisch genauso aussieht wie eine Wellengleichung in der klassischen Mechanik, mit der man Wellenbewegungen beschreiben kann. Ihre Lösung liefert Wellenfunktionen. Aber Wellenfunktionen wovon? Was bewegt sich da als Welle?
Das Dumme ist, dass man diese Wellen nicht beobachten kann. Um zum Experiment zu kommen, zu dem, was man messen kann, braucht man eine weitere mathematische Konstruktion, und die hängt davon ab, wie man die Wellenfunktion interpretiert.
Für die sogenannte Kopenhagener Interpretation ist die Wellenfunktion eine Aussage dafür, wie wahrscheinlich es ist, dass man bei der Messung an einem Ort ein Teilchen misst. Diese Interpretation fügt dem mathematischen Formalismus im engeren Sinne (der Schrödinger-Gleichung) einen weiteren mathematischen Formalismus hinzu, den des “Kollapses” der Wellenfunktion. Bei der Messung, so die Kopenhagener, “kollabiert” die Wellenfunktion, während sie kurz vor der Messung weit verteilt ist, wird nun die Wahrscheinlichkeit des Ortes des Teilchens an einem Punkt = 1 und überall woanders ist er = 0.
Andere Interpretationen fügen der Schrödinger-Gleichung andere mathematische Formalismen hinzu. Für deBroglie und Bohm z.B.ist die Wellenfunktion eine Führungswelle, und die Teilchen bewegen sich tatsächlich entlang echter Bahnen nach den Vorgaben dieser Führungswelle. Die Bewegungsgleichungen der Teilchen kommen also zum Formalismus hinzu.
Andere Interpretation oder andere Theorie?
Vielleicht sollte man sagen, dass es sich nicht um andere Interpretationen einer Theorie, sondern um andere Theorien handelt. Sie haben alle nur eines gemeinsam: Die Schrödinger-Gleichung. Aber schon in der Frage, was die Ausdrücke in dieser Gleichung eigentlich bedeuten, wovon die Gleichung eigentlich eine Dynamik beschreibt, unterscheiden sie sich. Und jede fügt der Schrödinger-Gleichung eine andere Mathematik hinzu, um zu den experimentellen Ergebnissen zu kommen.
Warum machen sich Physiker überhaupt die Mühe, Alternativen zur Kopenhagener Interpretation zu entwickeln? Schließlich ist diese sehr erfolgreich, sie kann Verläufe von Experimenten sehr gut vorhersagen und hat inzwischen viele technische Anwendungen gefunden, und weitere sind zu erwarten.
Es ist das Unbehagen das dann doch viele Physiker beschleicht wenn sie gefragt werden, was uns die Quantenmechanik eigentlich sagt. David Mermin hat es in seinem berühmten Satz auf den Punkt gebracht:
If I were forced to sum up in one sentence what the Copenhagen interpretation says to me, it would be ‘Shut up and calculate!’ [Wenn ich gezwungen wäre in einem Satz zusammenzufassen, was mir die Kopenhagener Interpretation sagt, wäre es “Halt den Mund und rechne!”]
Diese Einstellung, die Werner Heisenberg so schön verteidigt hat, führt die Physik über die Verfeinerungen der Quantenmecahnik und der Standardmodells der Teilchenphysik schließlich zur Stringtheorie und damit vielleicht in eine Sackgasse. Man beginnt sich wieder die Frage zu stellen, wovon der mathematische Formalismus eigentlich handelt, wo die Realität in den Gleichungen bleibt, was die Ausdrücke in den Gleichungen eigentlich bedeuten. Aber der Sinn von “Realität” ist fraglich geworden und die Bedeutung von “Bedeuten” selbst ist in Vergessenheit geraten. Deshalb muss man bei diesen Fragen wieder ansetzen.
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