Das Schöne beim Lesen von Vortragssammlungen ist, dass man im zweiten Text zumeist – wenigstens am Rande, das Thema des ersten noch einmal dargestellt bekommt, aus einer anderen Perspektive vielleicht und mit einer gewissen Verschiebung, die auch die Veränderung des Standpunktes des Autors oder die Vielschichtigkeit des Gegenstandes selbst sichtbar macht.
So ist es auch beim zweiten Teil des Buches “Experiment – Differenz – Schrift“, dessen ersten Teil ich vor einigen Tagen vorgestellt habe. Rheinberger erläutert in “Historialität – Spur – Dekonstruktion” noch einmal sein Konzept des “Experimentalsystems” – und das gibt mir hier auch die Gelegenheit zu einigen Klärungen, die mir nach dem Lesen der Kommentare zu meinem ersten Text notwendig zu sein scheinen.
Experiment und Experimentalsystem
Ein Experientalsystem ist kein einzelner Versuchsaufbau und auch keine Anleitung zu einem Einzelexperiment. Schon in seinem ersten Vortrag weist Rheinberger – in Anlehnung an Ludwig Fleck – ausdrücklich darauf hin, dass der Experimentator es in seiner Praxis “mit allem, nur nicht mit einzelnen Experimenten zu tun hat”. Es handelt sich um eine komplex Experimentalanordnung, “die so eingerichtet ist, dass sie Wissen produziert, das wir noch nicht haben.” In einer Fußnote zum zweiten Vortrag erläutert er:
Praktisch besteht ein Experimentalsystem aus einem ganzen Bündel von ‘Aktanten’: technisches Personal, Diplomanden, Doktoranden und Postdoktoranden, die kontinuierlich in ein Forschungssystem ein- und nach einigen Jahren wieder austreten, ständige Wissenschaftler, eine Vielzahl von Mess- und Manipulationsgeräten, spezielle Ausrüstungen, Rechenanlagen, ein System zur Bereitstellung von Verbrauchsmaterial usw., und nicht zuletzt eine entsprechende Laborarchitektur.
Die Struktur eines Experimentalsystems muss dabei einerseits stabil sein, damit dass darin integrierte Wissen nicht “zerfließt” – andererseits muss sie locker gefügt sein, damit neues Wissen produziert werden kann. “Das Hervorbringen des Unbekannten [wird] zum reproduktiven Prinzip der ganzen Maschinerie”. Solange ein Experimentalsystem das kann, solange es Differenzen produziert, die es erlauben, forschungsrelevante Fragen zu stellen,solange ist ein System “jung”. Wichtig für die Forschung sind also gerade nicht so sehr die Einzelexperimente, die Theorien bestätigen oder widerlegen, sondern die Experimentalsysteme, die durch ihre innere Dynamik ständig Antworten auf Fragen produzieren, die zuvor noch gar nicht bekannt waren.
Das Neue als Ergebnis der Zukunft
Das Neue ist nichts weiter als eine Irritation an der Stelle, an der es seinen Ausgang genommen haben wird – man kann es nur im Modus der vergangenen Zukunft ansprechen.
Das leitet zum Hauptthema des Vortrages über. Im Nachhinein erscheint uns der wissenschaftliche Forschungsprozess immer als folgerichtig. Sowohl das Modell der Wissenschaft als kumulativem Prozess als auch das revolutionäre Modell Kuhns werden problematisch, wenn man die Mikrostruktur des Prozesses, der sich in der Dynamik des Experimentalsystems zeigt, untersucht. Von diesem weiß man eben immer nur, dass es neues Wissen produziert, dass es Antworten produziert auf noch nicht gestellte Fragen.Diese Antworten müssen zunächst erkannt werden, bevor die richtige Frage dazu gefunden wird – dann stellt sich, im Nachhinein, die Antwort als “das Neue” heraus. Aus der Perspektive der Zukunft auf die Vergangenheit kann dieses Neue als das Neue erkannt werden, aber wenn es entsteht, ist es noch nicht das Neue.
Der Forschungsprozess ist eben eine Spur, die aus vielen einzelnen Spuren entsteht. Jede neue Spur verwischt wieder einen Teil der zuvor gezogenen Linien. Erst im Rückblick erkennen wir die klare Linie, die vom ersten Sichtbarwerden des Neuen folgerichtig zu dem führt, was wir heute wissen.
Das Rezente ist, wenn man so will, das Ergebnis von etwas, das es nicht gegeben hat. Und das Vergangene ist die Spur von etwas, das es nicht gegeben haben wird.
Das gilt natürlich nicht nur für die Geschichte der Wissenschaft, das gilt so für jede Geschichte. Nur fällt es uns wohl leichter, diese paradoxe Situation für alle nicht-wissenschaftlichen Tätigkeiten zu akzeptieren. Die logische Klarheit des Ergebnisses erweckt wohl die Erwartung, dass auch bei seiner Entstehung ein logischer, klarer, stringenter, folgerichtiger Prozess am Werke gewesen sein muss. Aber der Prozess der Entwicklung wissenschaftlicher Systeme hat viel mehr mit der natürlichen Evolution gemein, als man manchmal denkt: Auch hier ist es die differentielle Veränderung des Systems, bei Erhaltung einer gewissen reproduktiven Stabilität, die in der Konfrontation mit der Umwelt zu Vielfalt und funktioneller Angepasstheit führt.
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