„Experiment – Differenz – Schrift” heißt das schöne Buch von Hans-Jörg Rheinberger, dessen drei Hauptteile ich hier in den nächsten Tagen besprechen werde*. Der Titel verweist schon auf eine gewisse Nähe des Autors zu Jaques Derrida, und in der Tat ist der Biologe und heutige Direktor des Max-Planck-Institutes für Wissenschaftsgeschichte gleichzeitig der Übersetzer einiger Derrida-Werke, unter anderem der berühmten „Grammatologie”.
Der schmale Band enthält drei Vorträge, die Rheinberger vor rund zwei Jahrzehnten gehalten hat und in denen es um die „Experimentalstruktur der empirischen Wissenschaften” geht, darum, das Experiment innerhalb der Wissenschaft unter einem neuen Gesichtspunkt zu betrachten, es nicht mehr nur als „Instanz der Verifikation, der Bewährung, der Verwerfung oder der Modifikation von Theorien” anzusehen sondern als „Geflecht von sich selbst instruierenden epistemischen Praktiken”, mit anderen Worten als die wissenschaftliche Aktivität, die auf eigene Weise neues Wissen produziert. Rheinberger verweist an dieser Stelle auf die Arbeiten u.a. von Latour und Hacking, die in den 1980ern begonnen haben, das Experiment zum Gegenstand wissenschaftsphilosophischer Untersuchungen zu machen.
Experimentalsysteme
Aber Rheinberger geht noch einen Schritt weiter, er sieht nicht nur eine relative Autonomie des Experiments gegenüber der Theorie, er betrachtet das Experimentalsystem als „kleinste funktionelle Einheit, als die Arbeitseinheit des Wissenschaftlers”. Dabei handelt es sich nicht einmal um etwas, das als „experimentelles Denken” bezeichnet werden könnte, denn dabei wäre „Denken” noch das genus proximum, sondern um „eine durch instrumentelle Randbedingungen ausgerichtete Bewegung, in der das Räsonnieren gewissermaßen ins Spiel der materiellen Entitäten gerissen wird”.
Das Experimentalsystem erlaubt überhaupt erst, die Fragen zu formulieren, die man beantworten kann.
Ein Experiment ist dabei niemals ein Einzelereignis, ein Versuchsaufbau, in dem eine bestimmte Konstellation hergestellt und ein bestimmtes Ereignis produziert wird. Ein Experiment „produziert Wissen, das wir noch nicht haben”. Das Experiment als Instanz zur Bestätigung oder Widerlegung von Theorien spielt in dieser Sicht eine ganz untergeordnete Rolle, und selbst wenn es darauf angelegt ist, ist es immer weit mehr als das. Denn eine Experimentalsituation ist niemals klar, wenn sie klar wäre, dann wäre das Experiment streng genommen gar nicht nötig.
Differentielle Reproduktion
Man sollte deshalb eigentlich weniger von dem Experiment als vom Experimentieren sprechen, es ist ein „Tasten”, ein „Tappen”. Ein Experimentalsystem in diesem Sinne zeichnet sich durch ein Zusammenspiel von Reproduktion und Differenz aus. Durch die Reproduktion entsteht die „zeitliche Kohärenz” des Experimentalsystems, „seine Entwicklung hängt davon ab, ob es gelingt, Differenzen zu erzeugen”.
Ein Experimentalsystem existiert im Spannungsfeld von Stabilisierung und Destabilisierung. Wenn es nur noch reproduziert, hört es auf, ein Forschungssystem zu sein – es kann allerdings als stabiles Element in ein neues, umfassenderes Forschungssystem eingebaut werden. Aber nur, so lange es neue Fenster öffnet, solange es sich selbst verschiebt, kann es neues Wissen produzieren, kann es „eine Maschine zur Herstellung von Zukunft” sein. Um produktiv zu bleiben, muss es also so organisiert sein, dass „es jener Art von subversiver, verschiebender Bewegung gehorcht, die Derrida „différance” genannt hat.”
Repräsentation
Das Wissenschaftswirkliche ist eine Welt von Spuren
Die Dynamik des Experimentalsystems ist ein „Schreibspiel”, sie erzeugt „Spuren”. Indem Rheinberger das Primat der Theorie über das Experiment auflöst, löst er auch das Primat der Aussagen von Theorien über die Ergebnisse von Experimenten auf. Nicht die theoretischen Begriffe repräsentieren etwas, sondern die Spuren, seien es Farbflecken auf Papier, Linien, die von den Zeigern der Instrumente gezogen werden, oder Diagramme, die nach standardisierten Verfahren aus Messergebnissen abgeleitet werden. Diese Ergebnisse nennt Rheinberger die „epistemischen Dinge”, die „Objekte der experimentellen Interpretation.
Sie verkörpern bestimmte Seiten des Wissenschaftsobjektes in fassbarer, im Labor handhabbarer Form. Es ist die Anordnung dieser graphematischen Spuren oder Grapheme und die Möglichkeit ihres Herumschiebens im Repräsentationsraum, die das experimentelle Schreibspiel zusammensetzen.
Rheinberger erwähnt an dieser Stelle nicht den wesentlichen Umstand, dass diese epistemischen Dinge immer in einer Größe und Form vorliegen, dass sie unserer unmittelbaren Erfahrung zugänglich geworden sind. Es sind Spuren, die wir ohne Hilfsmittel sehen können, in ihnen wird das nicht beobachtbare Objekt (die „theoretische Entität”) beobachtbar.
Konjunkturen
Der Gang, auf dem experimentelle Objekte ins Leben treten, entscheidet darüber, was sie zunächst sind.
Im Schreibspiel der differentiellen Reproduktion des Experimentalsystems entsteht etwas, das Rheinberger „Konjunkturen” nennt, das „Auftreten einer außergewöhnlichen Konstellation”, eben das „unvorwegnehmbare Ereignis”. Eine Konjunktur „kann dem ganzen Experimentalsystem eine neue Richtung weisen, und vor allem kann sie Nahtstellen zwischen verschiedenen Experimentalsystemen ausbilden.” Rheinberger erläutert dieses Konzept an einer Fallstudie aus seinem Fachgebiet, der Nahtstelle zwischen Biochemie und Molekularbiologie. Etwas, was zuvor im Experimentalsystem als Störung, als Verunreinigung gesehen wird, wird in einer Konjunktur plötzlich wesentlich, wird zum zentralen Gegenstand, und so schafft eine Konjunktur neues Wissen, ja, es wird ein neues epistemisches Ding geschaffen, mit neuen Forschungsprogrammen und neuen Experimentalsystemen.
So wird ein Experimentalsystem unversehens durch eine Konjunktur zu einem „gewaltigen Forschungsattraktor, eine Art Hochgeschwindigkeitsmaschine zur Produktion von Zukunft”. Das System verspricht eine rasche Klärung fast aller offenen Frage, produziert dabei jedoch neue, bisher völlig unbekannte Fragen.
Interessant ist, dass in dieser Sicht auf den wissenschaftlichen Prozess die Theorie scheinbar überhaupt keine Rolle spielt. Im Experimentalsystem werden epistemische Dinge produziert und stabilisiert, indem Spuren als Repräsentationen reproduziert werden. Gleichzeitig ist das Experimentalsystem so organisiert, dass eine stetige Verschiebung des Repräsentationsraumes stattfindet, sodass im Wechselspiel von Kohärenz und Differenz neues Wissen produziert wird. Ist dieses Wissen stabilisiert, kann es als sicheres Bauteil in neue Experimentalsysteme eingebaut werden. Der Bedarf an neuen Experimentalsystemen entsteht, sobald außergewöhnliche Konstellationen wahrgenommen werden, Konjunkuren.
Die Abwesenheit der Theorie in diesem Bild kann natürlich aus dem radikalen Perspektivwechsel beim Blich auf die empirischen Wissenschaften gedeutet werden, der in den 1980er Jahren eingeleitet wurde. Zumindest wäre zu untersuchen, wie weit Theorien beim „Lesen von Spuren” und beim Erkennen von Konjunkturen unverzichtbar sind. Erfrischend ist aber, zu sehen, dass auch die moderne empirische Wissenschaft als Geschichte des praktischen Handelns und nicht nur des genialen Denkens erzählt werden kann.
* Das Buch ist zwar nicht bei Amazon und auch nicht bei buch.de erhältlich, aber man kann es direkt bei der Basilisken-Presse für gerade einmal 11,– € incl. Versand bestellen.
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