„Experiment – Differenz – Schrift” heißt das schöne Buch von Hans-Jörg Rheinberger, dessen drei Hauptteile ich hier in den nächsten Tagen besprechen werde*. Der Titel verweist schon auf eine gewisse Nähe des Autors zu Jaques Derrida, und in der Tat ist der Biologe und heutige Direktor des Max-Planck-Institutes für Wissenschaftsgeschichte gleichzeitig der Übersetzer einiger Derrida-Werke, unter anderem der berühmten „Grammatologie”.

Der schmale Band enthält drei Vorträge, die Rheinberger vor rund zwei Jahrzehnten gehalten hat und in denen es um die „Experimentalstruktur der empirischen Wissenschaften” geht, darum, das Experiment innerhalb der Wissenschaft unter einem neuen Gesichtspunkt zu betrachten, es nicht mehr nur als „Instanz der Verifikation, der Bewährung, der Verwerfung oder der Modifikation von Theorien” anzusehen sondern als „Geflecht von sich selbst instruierenden epistemischen Praktiken”, mit anderen Worten als die wissenschaftliche Aktivität, die auf eigene Weise neues Wissen produziert. Rheinberger verweist an dieser Stelle auf die Arbeiten u.a. von Latour und Hacking, die in den 1980ern begonnen haben, das Experiment zum Gegenstand wissenschaftsphilosophischer Untersuchungen zu machen.

Experimentalsysteme

Aber Rheinberger geht noch einen Schritt weiter, er sieht nicht nur eine relative Autonomie des Experiments gegenüber der Theorie, er betrachtet das Experimentalsystem als „kleinste funktionelle Einheit, als die Arbeitseinheit des Wissenschaftlers”. Dabei handelt es sich nicht einmal um etwas, das als „experimentelles Denken” bezeichnet werden könnte, denn dabei wäre „Denken” noch das genus proximum, sondern um „eine durch instrumentelle Randbedingungen ausgerichtete Bewegung, in der das Räsonnieren gewissermaßen ins Spiel der materiellen Entitäten gerissen wird”.

Das Experimentalsystem erlaubt überhaupt erst, die Fragen zu formulieren, die man beantworten kann.

Ein Experiment ist dabei niemals ein Einzelereignis, ein Versuchsaufbau, in dem eine bestimmte Konstellation hergestellt und ein bestimmtes Ereignis produziert wird. Ein Experiment „produziert Wissen, das wir noch nicht haben”. Das Experiment als Instanz zur Bestätigung oder Widerlegung von Theorien spielt in dieser Sicht eine ganz untergeordnete Rolle, und selbst wenn es darauf angelegt ist, ist es immer weit mehr als das. Denn eine Experimentalsituation ist niemals klar, wenn sie klar wäre, dann wäre das Experiment streng genommen gar nicht nötig.

Differentielle Reproduktion

Man sollte deshalb eigentlich weniger von dem Experiment als vom Experimentieren sprechen, es ist ein „Tasten”, ein „Tappen”. Ein Experimentalsystem in diesem Sinne zeichnet sich durch ein Zusammenspiel von Reproduktion und Differenz aus. Durch die Reproduktion entsteht die „zeitliche Kohärenz” des Experimentalsystems, „seine Entwicklung hängt davon ab, ob es gelingt, Differenzen zu erzeugen”.

Ein Experimentalsystem existiert im Spannungsfeld von Stabilisierung und Destabilisierung. Wenn es nur noch reproduziert, hört es auf, ein Forschungssystem zu sein – es kann allerdings als stabiles Element in ein neues, umfassenderes Forschungssystem eingebaut werden. Aber nur, so lange es neue Fenster öffnet, solange es sich selbst verschiebt, kann es neues Wissen produzieren, kann es „eine Maschine zur Herstellung von Zukunft” sein. Um produktiv zu bleiben, muss es also so organisiert sein, dass „es jener Art von subversiver, verschiebender Bewegung gehorcht, die Derrida „différance” genannt hat.”

Repräsentation

Das Wissenschaftswirkliche ist eine Welt von Spuren

Die Dynamik des Experimentalsystems ist ein „Schreibspiel”, sie erzeugt „Spuren”. Indem Rheinberger das Primat der Theorie über das Experiment auflöst, löst er auch das Primat der Aussagen von Theorien über die Ergebnisse von Experimenten auf. Nicht die theoretischen Begriffe repräsentieren etwas, sondern die Spuren, seien es Farbflecken auf Papier, Linien, die von den Zeigern der Instrumente gezogen werden, oder Diagramme, die nach standardisierten Verfahren aus Messergebnissen abgeleitet werden. Diese Ergebnisse nennt Rheinberger die „epistemischen Dinge”, die „Objekte der experimentellen Interpretation.

Sie verkörpern bestimmte Seiten des Wissenschaftsobjektes in fassbarer, im Labor handhabbarer Form. Es ist die Anordnung dieser graphematischen Spuren oder Grapheme und die Möglichkeit ihres Herumschiebens im Repräsentationsraum, die das experimentelle Schreibspiel zusammensetzen.

Rheinberger erwähnt an dieser Stelle nicht den wesentlichen Umstand, dass diese epistemischen Dinge immer in einer Größe und Form vorliegen, dass sie unserer unmittelbaren Erfahrung zugänglich geworden sind. Es sind Spuren, die wir ohne Hilfsmittel sehen können, in ihnen wird das nicht beobachtbare Objekt (die „theoretische Entität”) beobachtbar.

Konjunkturen

Der Gang, auf dem experimentelle Objekte ins Leben treten, entscheidet darüber, was sie zunächst sind.

Im Schreibspiel der differentiellen Reproduktion des Experimentalsystems entsteht etwas, das Rheinberger „Konjunkturen” nennt, das „Auftreten einer außergewöhnlichen Konstellation”, eben das „unvorwegnehmbare Ereignis”. Eine Konjunktur „kann dem ganzen Experimentalsystem eine neue Richtung weisen, und vor allem kann sie Nahtstellen zwischen verschiedenen Experimentalsystemen ausbilden.” Rheinberger erläutert dieses Konzept an einer Fallstudie aus seinem Fachgebiet, der Nahtstelle zwischen Biochemie und Molekularbiologie. Etwas, was zuvor im Experimentalsystem als Störung, als Verunreinigung gesehen wird, wird in einer Konjunktur plötzlich wesentlich, wird zum zentralen Gegenstand, und so schafft eine Konjunktur neues Wissen, ja, es wird ein neues epistemisches Ding geschaffen, mit neuen Forschungsprogrammen und neuen Experimentalsystemen.
So wird ein Experimentalsystem unversehens durch eine Konjunktur zu einem „gewaltigen Forschungsattraktor, eine Art Hochgeschwindigkeitsmaschine zur Produktion von Zukunft”. Das System verspricht eine rasche Klärung fast aller offenen Frage, produziert dabei jedoch neue, bisher völlig unbekannte Fragen.

Interessant ist, dass in dieser Sicht auf den wissenschaftlichen Prozess die Theorie scheinbar überhaupt keine Rolle spielt. Im Experimentalsystem werden epistemische Dinge produziert und stabilisiert, indem Spuren als Repräsentationen reproduziert werden. Gleichzeitig ist das Experimentalsystem so organisiert, dass eine stetige Verschiebung des Repräsentationsraumes stattfindet, sodass im Wechselspiel von Kohärenz und Differenz neues Wissen produziert wird. Ist dieses Wissen stabilisiert, kann es als sicheres Bauteil in neue Experimentalsysteme eingebaut werden. Der Bedarf an neuen Experimentalsystemen entsteht, sobald außergewöhnliche Konstellationen wahrgenommen werden, Konjunkuren.

Die Abwesenheit der Theorie in diesem Bild kann natürlich aus dem radikalen Perspektivwechsel beim Blich auf die empirischen Wissenschaften gedeutet werden, der in den 1980er Jahren eingeleitet wurde. Zumindest wäre zu untersuchen, wie weit Theorien beim „Lesen von Spuren” und beim Erkennen von Konjunkturen unverzichtbar sind. Erfrischend ist aber, zu sehen, dass auch die moderne empirische Wissenschaft als Geschichte des praktischen Handelns und nicht nur des genialen Denkens erzählt werden kann.

* Das Buch ist zwar nicht bei Amazon und auch nicht bei buch.de erhältlich, aber man kann es direkt bei der Basilisken-Presse für gerade einmal 11,– € incl. Versand bestellen.

Kommentare (22)

  1. #1 antiangst
    Juli 22, 2010

    Warum so viele Worte, warum nicht einfach: Erfolgreich ist das strategische Rumprobieren und Stochern im Nebel.

  2. #2 Jürgen Schönstein
    Juli 22, 2010

    das Experiment innerhalb der Wissenschaft … nicht mehr nur als „Instanz der Verifikation, der Bewährung, der Verwerfung oder der Modifikation von Theorien” anzusehen sondern als „Geflecht von sich selbst instruierenden epistemischen Praktiken”, mit anderen Worten als die wissenschaftliche Aktivität, die auf eigene Weise neues Wissen produziert

    Und woran würden wir das “neue Wissen” erkennen, genauer gesagt, was macht es zum “Wissen”, wenn dem Experiment die theoretische Grundlage fehlt? Oder noch simpler: Was hat man von einer Antwort, wenn man die Frage nicht kennt?

    Nehmen wir Datamining: Wenn man Daten lange genug auf alle möglichen Muster hin abklopft, kommt sicher auch mal was unerwartet Neues dabei heraus. Aber können wir dieses Neue, dieses “Muster”, denn überhaupt erkennen, wenn wir nicht wenigstens so etwas wie eine (theoretische) Erwartung haben? Und was wiederum nützt es uns, Muster zu erkennen, wenn wir dann nichts wirklich Sinnvolles damit anfangen können (siehe Stephen Wolframs “New Kind of Science”)?

  3. #3 schlappohr
    Juli 22, 2010

    “[…] was macht es zum “Wissen”, wenn dem Experiment die theoretische Grundlage fehlt?”

    Ist die Wissenschaft nicht erst daurch entstanden, dass der Mensch vor Urzeiten, vor der Existenz jeglicher Theorien, Experimente durchgeführt hat? Vielleicht hat er damals aus langer Weile einen Stein fallen lassen und dabei beobachtet, dass er am Anfang langsam und dann immer schneller fällt. Dann hat der das gleiche mit einem Ast, einer Suppenschale und einem Knochen bei gleichem Ergebnis wiederholt und so die Gesetzmäßigkeit der Fallbeschleunigung entdeckt. Unsere Kinder lernen heute noch auf diese Weise ihre Umwelt kennen.

  4. #4 Jürgen Schönstein
    Juli 22, 2010

    @Schlappohr
    Schön und gut, wir lernen natürlich viel aus der praktischen Erfahrung. Aber vermittelt uns dies dann eine “Einsicht” im wissenschaftlichen Sinn? Oder reicht sie gerade mal aus, um irgendwelche unbekannten und bei Bedarf auch übersinnlichen Kräfte zur Eklärung zu bemühen: Der Baum wächst, weil eine Nymphe in ihm lebt, die Sonne scheint, weil der Sonnengott in einem glühenden Wagen über den Himmel fährt etc.

    Das Wesen des Experiments, so wie ich – und vermutlich nicht nur ich – es beschreiben würde, liegt ja gerade darin, eine auf Beobachtung beruhende Hypothese zu überpüfen. Die Beobachtung ist: Der Stein fällt nach unten. Aber schon die Wiederholung mit anderen Objekten – vom Stein zum Ast zur Suppenschüssel, in Deinem Beispiel – ist bereits eine Überprüfung einer Hypothese: Wenn’s beim Stein klappt, dann müsste eigentlich auch … In jedem Fall: Ein Experiment ist schon rein semantisch von der Hypothese nicht zu trennen – ohne diese bleibt es Spielerei.

  5. #5 Jörg Friedrich
    Juli 22, 2010

    @Jürgen Schönstein: Ich selbst möchte die Rolle der Theorie gar nicht kleinreden, und ich vermute, auch Rheinberger wird die Bedeutung der theoretischen Deutung von experimentellen Ergebnissen nicht in Abrede stellen. Unstrittig ist aber auch (und inzwischen durch viele Fallstudien belegt) dass Experimente weit mehr sind als Tribunale zur Verifikation oder Falsifikation von Theorien, sie generieren erst neue Fragestellungen, und das oftmals durch Neudeutung empirischer Daten, die nach der Theorie z.B. als Störungen, als Unsauberkeiten interpretiert werden. Das Interessante ist eben, dass nicht nur die Antworten, sondern auch die Fragen oft eben im Experimentalsystem erzeugt werden. Auch Rheinbergers Text hat dafür eine schöne Fallstudie aus den 1950er Jahren zur Entdeckung der Bedeutung der RNA.

    Ich denke, es ist schon Wissen, wenn man ein experimentelles Ergebnis stabil reproduzieren kann, wenn man weiß, unter welchen Umständen so ein epistemisches Ding im Experiment entsteht und unter welchen Umständen es wieder verschwindet.

  6. #6 Jürgen Schönstein
    Juli 22, 2010

    @Jörg Friedrich

    Das Interessante ist eben, dass nicht nur die Antworten, sondern auch die Fragen oft eben im Experimentalsystem erzeugt werden.

    Das ist doch nichts anderes als das, was man auch bisher schon “Wissenschaft” nennt. Jede wissenschaftliche Antwort ist ja nur so gut, wie man neue Fragen daraus formulieren kann. Doch die Abfolge “Frage –> Antwort” bleibt auch in der Kette von Fragen und Antworten erhalten. Wenn ich keine Frage habe, gibt’s auch keine Antwort. Und wenn ich keine Hypothese habe, dann ist’s halt kein Experiment, sondern Spielerei oder manchmal purer Zufall (und all das ist übrigens nicht automatisch schlecht). Das hat vermutlich noch nicht mal etwas mit Wissenschaft zu tun, das ist schlichte Semantik.

  7. #7 schlappohr
    Juli 22, 2010

    @Jürgen Schönstein:

    Ich meine, die alltägliche Erfahrung (zusammen mit einem gewissen Bedürfnis, den Dingen auf den Grund zu gehen) ist der _Anfang_ aller Wissenschaft. In dem Moment, wo wir Vorgänge beobachten und beginnen, und Fragen zu stellen und auf ähnliche Vorgänge achten, legen wir den Grundstein dafür. Reine Neugier und eine Frage im Kopf ist jedoch zunächstmal noch keine Theorie. Wenn unser Urmensch den fallenden Stein beobachtet hat und sich dann die Frage stellt, ob sich andere Gegenstände ebenso verhalten, hat er noch keine Hypothese im Kopf, die er bewusst mit weiterführenden Experimenten verifizieren oder widerlegen will. Vielleicht verliert er das Interesse an der ganzen Sache, wenn er eine Feder fallen lässt und sieht, das sie nicht wesentlich beschleunigt. Eine Theorie im Sinne von “Fallende Gegenstände beschleunigen kontinuierlich” hat er zu diesem Zeitpunkt noch nicht gehabt.

    Ob derartige “nicht-theoriegetriebenen” Experimente wirklich den Namen Experiment im herkömmlichen Sinne verdienen, ist natürlich eine andere Frage.

  8. #8 Jürgen Schönstein
    Juli 23, 2010

    @schlappohr
    Mein Kompromissvorschlag: Wenn wir das Steine-Äste-Suppenschüssel-Fallenlassen als “Experiment” bezeichnen, dann auch ist die Frage, ob das Runterfallen nicht nur bei Steinen, sondern auch anderen Objekten klappt, eine “Hypothese”.

  9. #9 Ockham
    Juli 23, 2010

    Wie sinnvoll ist es, jede durch Neugier und Verbesserungswünsche Tätigkeit semantisch in allgemeingültige Formalismen zu kleiden? In jedem Fall scheint mir die erste Voraussetzung die Willkür zu sein. Das heißt, im Gegensatz zur ungeplanten Beobachtung, ist das ein Experiment, was geplant, vorgedacht, ist. Am Anfang steht also, wie schlappohr m.E. sehr richtig sagt die Hypothese. Ob im Verlaufe des Experimentes genug Beobachtungen akkumuliert werden können, um eine Theorie formulieren zu können, steht auf einem ganz anderen Blatt. Darum ist m.E. nicht sinnvoll Experiment und Theorie in dieser Weise zu verknüpfen. Die einzige stabile Beziehung besteht zwischen der Hypothese und dem Experiment.

    Es is in diesem Zusammenhang eine hochinteressante Frage, ob wir Methoden entwickeln könnten, Experimente ohne Hypothesen durchführen zu können, die trotzdem der wissenschaftlichen Methode genügen!!!

  10. #10 Jürgen Schönstein
    Juli 23, 2010

    @Alle
    Es wäre hilfreich, wenn man auf die Terminologie achtet: “Hypothese” ≠ “Theorie”, und die zeitlich-logische Abfolge ist Beobachtung ⇒ Hypothese ⇒ Experiment ⇒ Theorie (um jetzt mal nur die bereits verwendeten Begriffe zu sortieren – die wissernschaftliche Praxis ist selbstverständlich komplexer, mit Iterationen einzelner Schritte etc.)

  11. #11 Der Webbaer
    Juli 23, 2010

    Nehmen wir Datamining: Wenn man Daten lange genug auf alle möglichen Muster hin abklopft, kommt sicher auch mal was unerwartet Neues dabei heraus. Aber können wir dieses Neue, dieses “Muster”, denn überhaupt erkennen, wenn wir nicht wenigstens so etwas wie eine (theoretische) Erwartung haben? Und was wiederum nützt es uns, Muster zu erkennen, wenn wir dann nichts wirklich Sinnvolles damit anfangen können (siehe Stephen Wolframs “New Kind of Science”)?

    Das Neue wäre nicht “unerwartet”, Datenanalyse ist projizierend. Die Information steht so zu sagen über den Daten. 🙂

    Zum letzten Satz: Es nutzt uns, aber nicht immer. Manchmal mehr, manchmal weniger. So isses halt.

    BTW, die Terminologie sehr schön zusammengefasst.

    MFG
    Wb

  12. #12 Jörg Friedrich
    Juli 23, 2010

    Eine Hypothese hat auch nicht immer die Struktur einer Theorie-Aussage, Hypothesen müssen nicht notwendig “ungesicherte Theorien” sein. Hypothesen im weitesten Sinne hat natürlich auch jeder Experimentator beim “Tappen” und “Tasten”.

    Ein Experiment hat immer verschiedene, unklare Ergebnisse, und innerhalb de differentiellen Weiterentwicklung des Experimentalsystems wird darüber “räsonniert” welche dieser Ergebnisse wichtig sind und stabil, und welche Fehler oder störungen sind, die beseitigt werden müssten. Das sind die Hypothesen des Experimentators, die sicher sowohl mit seinen verfügbaren Theorien aber auch mit seinen Erfahrungen zu tun haben. Ganz ohne Theorie kann er aber dazu kommen seine Hypothese zu ändern, z.B., wenn sich Störungen partout nicht ausschalten lassen oder sich andere – als wesentlich angenommene Ergebnisse – nicht stabilisieren lassen. Dann entwickelt er sein Experimentalsystem in andere Richtungen weiter.

  13. #13 Jürgen Schönstein
    Juli 24, 2010

    @Jörg Friedrich
    Wahrscheinlich bin ich einfach schwer von Begriff, aber wenn vom

    Experiment als Instanz zur Bestätigung oder Widerlegung von Theorien

    (im 4. Absatz des Beitrags) die Rede ist, sehe ich immer nur Strohmänner. Vielleicht hat sich ja seit meinem Studium etwas geändert, aber erst mal braucht das Experiment eine Hypothese. Und nein, nicht jede Hypothese lässt sich im Experiment bestätigen (manchmal ist aber auch die Widerlegung ein sehr hilfreiches Resultat), und nicht jede bestätigte Hypothese führt zwangsläufig zu einer Theorie.

    Das Experimentalsystem erlaubt überhaupt erst, die Fragen zu formulieren, die man beantworten kann.

    Da komme ich ebenfalls nicht mehr mit. Okay, wenn das heißen soll, dass man sich in der experimentellen Forschung a priori auf Fragen begrenzen muss, die man dann auch experimentell beantworten kann (also vermutlich keine philosophischen Fragen) – geschenkt. Das ist so alt wie die Empirie selbst. Aber um ein Experiment aufzubauen, muss man irgend eine Vorstellung haben, wonach man sucht = eine Fragestellung. Sonst bringt es nichts, wenn man etwas findet. Weil man nicht weiß, was dieses “etwas” ist.

    Und ja, natürlich gibt es scheinbare Zufallsentdeckungen im Rahmen von Experimenten. Die Entdeckung der kosmischen Hintergrundstrahlung wäre so ein Beispiel. Aber die Sache mit dem Nobelpreis-gekrönten Zufall ist natürlich nur ein Mythos: Penzias und Wilson hatten zwar die Frequenz gefunden – in ihrem Experiment war sie jedoch nichts weiter als ein Störfaktor. Und aus ihrer Sicht erst mal unerklärlich. Doch gerade weil Gamow und andere eine solche Frequenz bereits als einen Nachhall des Urknalls vorher gesagt hatten, konnte deren Bedeutung schließlich erkannt werden. Die theoretische Basis kam zuerst – das Experiment, einschließlich der Nobepreis-würdigen Zufalls-Erkenntnis, folgte hinterher.

  14. #14 Jürgen Schönstein
    Juli 24, 2010

    @Jörg Friedrich, P.S.:

    wenn sich Störungen partout nicht ausschalten lassen oder sich andere – als wesentlich angenommene Ergebnisse – nicht stabilisieren lassen. Dann entwickelt er sein Experimentalsystem in andere Richtungen weiter.

    Und wenn Penzias und Wilson dies getan hätten, d.h. ihre Versuchsanordnung bzw. -Anforderung so geändert hätten, dass die lästige, unerklärliche Störfrequenz ausgefiltert bzw. ignoriert würde, hätten sie vermutlich nie den Nobelpreis bekommen …

  15. #15 Jörg Friedrich
    Juli 25, 2010

    @Jürgen Schönstein: Ihr letzter Kommentar macht mir klar, wo vielleicht das Missverständnis liegt: “in andere Richtungen weiterentwickeln” bedeutet hier, dass das, was bisher als Störung angesehen wurde, nun zum zentralen Forschungsgegenstand wird. Das eben ist das, was oben als Konjunktur beschrieben wurde, so wie es ja auch bei der kosmischen Hintergrundstrahlung war. Insofern ist das ein wunderbares Beispiel, für ein Experimentalsystem mit differentieller Reproduktion und mit Konjunktur.

  16. #16 Jürgen Schönstein
    Juli 28, 2010

    @Jörg Friedrich

    was bisher als Störung angesehen wurde, nun zum zentralen Forschungsgegenstand wird

    Ich würde Ihnen ja hier gerne Recht geben und die Diskussion – zumindest aus meiner Sicht – für beendet erklären. Das hätte nur den Haken, dass es halt nicht stimmt. Denn die “Störung”, mit der Penzias und Wilson zu kämpfen hatten (jene hartnäckige Grundfrequenz, die sie aus ihrer Horn-Antenne einfach nicht wegkriegen konnten), war auch weiterhin eine Störung für sie – aber eine, deren Ursache sie endlich kannten, nachdem sie erfolglos schon Taubenkacke weggeputzt und alle möglichen Eigenfrequenzen ihrer Antenne analysiert hatten. Auch nach der Entdeckung hatten die beiden immer noch den Job, diese Antenne zu entwickeln, sie wurden nicht plötzlich zu Urknallforschern. Und die Urknallforschung selbst? Die freute sich darüber, dass ihre Hypothese bestätigt wurde. Dass hier irgend etwas Neues zum “zentralen Forschungsgegenstand” wurde, den es vorher nicht gab, kann ich nicht erkennen. Und wie gesagt: Ohne die Erklärung, die die Urknall-Forscher auf Grund ihrer theoretischen Erkenntnisse beisteuern konnten, hätten Penzias und Wilson vermutlich noch Monate und Jahre die lästige Taubensch… von ihrer Antenne weggekratzt und am Ende ihr Design dann doch vielleicht als nicht tauglich verworfen.

    Experimente sind doch nur Experimente, wenn sie eine Antwort auf eine Frage geben können. Wie soll man sich denn eine “Antwort” vorstellen, ohne dass eine “Frage” gestellt wurde? Vielleicht wird die Analogie klarer, wenn man sich mal die grammatischen Begriffe “Subjekt”, “Prädikat” und “Objekt” vor Augen führt: Die können nicht existieren ohne den dazu gehörenden Satzbau, andernfalls wären es nur “Substantive”, “Pronomen”, “Verben”, “Adjektive” etc. Und genau so wird ein “Experiment” erst durch die “Syntax” der Forschung = Beobachtung ⇒ Hypothese ⇒ Experiment ⇒ Theorie zum Experiment.

  17. #17 Jörg Friedrich
    Juli 28, 2010

    @Jürgen Schönstein
    Erst einmal vielen Dank für die Anregung, das Beispiel der kosmischen Hintergrundstrahlung genauer anzusehen. Bisher kannte ich die Geschichte ungefähr mit der Genauigkeit, wie Sie sie hier skizziert haben. Ich habe nun auf das Penzias & Wilson -Paper, auf das zeitgleich erschienene Paper von Dicke et al und auf die Nobel-Lectures einen ersten Blick geworfen. Die Geschichte ist so interessant, dass ich sie noch mal im Detail nachvollziehen werde. Hier nur, mit Bezug auf unsere Diskussion, folgedes: Die Strahlung war für Penzias und Wilson zunächst eine Störung. Nach einem Jahr experimenteller Forschung war sie zwar immer noch eine Störung, aber sie war gleichzeitig eine definitiv isotrope, externe, kosmische Hintergrundstrahlung. Diese Strahlung beschreiben die beiden in ihrem Paper. Mit anderen Worten: Nach all diesen Untersuchungen hätten die beiden eben nicht mehr weiterhin Vogeldreck von Antennen gekratzt, sondern sie haben gewusst: Es gibt eine Strahlung die von überall her aus dem Kosmos kommt. Das ist die Konjunktur.

    Nun gab es zu der Zeit verschiedene alternative kosmologische Theorien. Zu einer passte die Strahlung (mehr oder weniger) – und deshalb haben diese Theoretiker die gefundene und beschriebene Strahlung sozusagen als “ihre” Strahlung interpretiert. Damit wurde sie zu einem Relikt des Urknalls. Wenn es keine Theorie gegeben hätte, hätte irgendwann jemand begonnen sich eine auszudenken, da bin ich sicher.

    Gleichzeitig war ein neues Forschungsprogramm entstanden – die genauere Analyse und Vermessung dieser Strahlung, die heute mit der Planck-Sonde noch nicht abgeschlossen ist. Da haben Sie die differentielle Reproduktion des Experimentalsystems: Aus der Antenne von Penzias und Wilson ist eine Raumsonde geworden, dabei werden die Messergebnisse immer wieder reproduziert, sie bleiben wiedererkennbar, aber sie verschieben sich auch, man kennt heute Fluktuationen in der Hintergrundstrahlung usw. Wer weiß, vielleicht wird die Strahlung dabei wieder zu etwas anderem, vielleicht bleibt sie nicht “Relikt des Urknalls”.

  18. #18 Andrea N.D.
    Juli 28, 2010

    @Jörg Friedrich:
    Ihr letzter Kommentar ist schwer nachzuvollziehen, aber eines konnte ich doch feststellen: er stellt nicht wirklich eine Antwort auf den letzten Kommentar von Jürgen Schönstein dar.

    Würden Sie Jürgen Schönstein in seinen sehr klar dargelegten Ausführungen über Theorie und Experimente zustimmen oder nicht?

    Das ist nämlich keine Facette, die zusätzlich mit vielen anderen Spuren ein bisschen beleuchet werden kann, sondern es gehört zum grundlegenden Verständnis jeder Wissenschaftstheorie. Ihrer übrigens auch: Sie insbesondere gehen mit vorgefertigten Fragen und Urteilen an Ihre “Untersuchungsgegenstände” heran.

  19. #19 Jörg Friedrich
    Juli 28, 2010

    Ich würde vorschlagen, dass wir es Jürgen Schönstein überlassen einzuschätzen ob mein Kommentar eine Antwort auf seinen Kommentar ist.

    Aber drei Anmerkungen, die dazu vielleicht hilfreich sind, möchte ich schon noch ergänzen:

    1. Tatsächlich gaben Penzias und Wilson eine Antwort auf eine Frage, die ihnen niemand gestellt hatte, und die sie sich auch nicht gestellt hatten. Sie fanden und beschrieben eine Hintergrundstrahlung, deren Existenz sie nachweisen konnten. Es ist nicht richtig, dass sie weiterhin nach Ursachen gesucht hätten, sie hatten die Ursache für ihre “Störung” gefunden.

    2. Damit wurde tatsächlich ein neues Forschungsfeld eröffnet, nämlich das Feld der genauen Untersuchung der Struktur dieser Strahlung. Es gab nun einen neuen Forschungsgegenstand. Den gab es ganz unabhängig davon, ob es schon Theorien für die Entstehung dieser Strahlung gab oder nicht. Wir wissen heute auch, dass diese Theorien (deren Erfinder sich so freuten) vielleicht gar nicht richtig sind, dass es auch andere Theorien gibt, die die Existenz der Strahlung erklären.

    3. Die Exoerimente von Penzias und Wilson waren schon vor der Verknüpfung mit der Theorie Experimente. Sie waren zuerst Experimente zur Radio-Astronomie. Dann waren Sie Experimente zum Auffinden der Störungsquelle. Dann wurden sie Experimente zur genauen Erfassung der Hintergrundstrahlung, deren Temperaturwert und deren Isotropie festgestellt wurde. Erst nachdem die Experimente abgeschlossen waren und die Experimentatoren zufällig von einer kosmologischen Theorie hörten, die eine Hintergrundstrahlung voraussagt (übrigens mit einem Wert von 10-15 K und nicht 3 K) wurden sie Experimente zur Bestätigung dieser Theorie. Heute werden die Folgexperimente möglicherweise zur Widerlegung der Urknall-Theorie und zur Bestätigung der Ekppyrosis führen, oder umgekehrt. Das einfache beispiel zeigt, dass Jürgen Schönsteins schöne Syntax der Forschung leider nicht stimmt.

  20. #20 Andrea N.D.
    Juli 28, 2010

    @Jörg Friedrich:
    Vielen Dank für die etwas klarere Ausführugn Ihrer Gedanken. Dennoch stimme ich Ihnen nicht zu. Meines Erachtens können Sie die gesamte Theoriediskussion nicht einfach auf die Zeitschiene verlegen und damit Ihre Behauputngen begründen. Sie haben etwas ganz wesentliches nicht verstanden, obwohl Sie es selbst – wie gesagt – genauso durchführen. Auch Sie haben Hypothesen im Kopf, die Sie auf Biegen und Brechen beweisen wollen; hier ist nur das Problem, dass Ihnen keine Experimente zur Verfügung stehen. Das alte Dilemma jeder Geisteswissenschaft.

    Selbst wenn die Experimente bereits abgeschlossen waren und aufgrund neuer Erkenntnisse eine neue Hypothese entwickelt wurde, so dass die alte Theorie schließlich irgendwann zu einer neuen wird, wieso stimmt deswegen Jürgen Schönsteins “Syntax” der Forschung nicht? Der Lauf beginnt lediglich aufs Neue und läuft immer wieder ab. Es scheint nämlich auch in der Naturwissenschaft keine “Spur “von A nach B (mit rückwirkender “Folgerichtigkeit” zu geben). Und dies, wie man hier sehr schön sieht, schon alleine deswegen nicht, weil B nie der Endpunkt sein kann.

  21. #21 Jürgen Schönstein
    Juli 30, 2010

    @Jörg Friedrich

    Tatsächlich gaben Penzias und Wilson eine Antwort auf eine Frage, die ihnen niemand gestellt hatte, und die sie sich auch nicht gestellt hatten.

    Nach diesem Statement habe ich beschlossen, dass es keinen Sinn hat, hier weiter zu diskutieren: Wenn man so ambivalent und freizügig mit Begriffen wie beispielsweise “Antwort” (die beiden genannten Forscher hatten nämlich keine – die fand sich jedoch bei Fachleuten, die sich die entsprechenden Fragen gestellt hatten) oder auch “Experiment” – unter dem Sie offenbar immer gerade das verstehen wollen, was in Ihre Argumentation passt, nur nicht das, was man in der Wissenschaftspraxis darunter versteht – umgeht, dann kann man natürlich immer nur “Recht haben”. Soll mir dann auch recht sein. Ich habe einen neuen Zeitvertreib gefunden, der im Ergebnis dieser Diskussion ähnelt, aber mehr Spaß macht: Ich geh’ jetzt einen Pudding an die Wand nageln …

  22. #22 Jürgen Schönstein
    Juli 30, 2010

    @Andrea N.D. @Jörg Friedrich

    Ich würde vorschlagen, dass wir es Jürgen Schönstein überlassen einzuschätzen ob mein Kommentar eine Antwort auf seinen Kommentar ist.

    Wenn es Antworten ohne vorausgehende Fragen geben kann, dann ist es wohl nur konsequent, dass es auch Fragen ohne nachfolgende Antworten geben muss 😉