Der Physiker Heinz-Dieter Zeh, einer der Mitbegründer der Dekohärenz-Theorie, hat sich in einem aktuellen Text unter dem Titel „Physik ohne Realität: Tiefsinn oder Wahnsinn?” mit der Frage der Realität in der Quantenphysik beschäftigt. Zweierlei ist an diesem Text interessant:
1. Was versteht Zeh unter „Realität” oder anders gefragt: Was macht nach Zeh eine realistische Theorie aus?
2. Wozu benötigt Zeh ein Konzept von Realität in der Quantenphysik?
Zeh hält es unter der Bedingung, dass „man bereit ist, den Realitätsbegriff unabhängig
von traditionellen Vorurteilen zu verstehen” für „möglich und konsistent” dass „die Wellenfunktion die Realität beschreibt”. Damit stellt er sich nach seiner eigenen Einschätzung gegen ein „verbreitetes Vorurteil unter Physikern” denn „die Wahrscheinlichkeitsinterpretation wird allen Physikstudenten als unumstößliches Dogma ins Gehirn gebrannt.”
Die übliche Ablehnung einer Realität in der Quantenphysik ist dagegen nur ein Verzicht auf Konsistenz der Beschreibung (umschrieben durch Vokabeln wie Dualismus, Unschärfe usw.).
Die begriffliche Konsistenz der Beschreibung
In diesem Satz äußert Zeh schon implizit seine zentrale Forderung an eine realistische Theorie: Konsistenz der Beschreibung. Das heißt für Zeh offenbar: die Theorie darf, um realistisch genannt zu werden, nicht auf verschiedenen, nicht logisch miteinander vereinbaren Formalismen (wie Partikel und Welle, oder Schrödinger-Dynamik und Kollaps) beruhen, die je nach Kontext oder Fragestellung oder Messsituation angewandt werden. Von einer realistischen Theorie verlangt Zeh einen einheitlichen, logisch konsistenten Formalismus, der insbesondere unabhängig von einem Beobachter, einer Messung die Vorgänge der Realität beschreibt. Eine Theorie, bei der abhängig von der Fragestellung des experimentierenden Forschers ein Formalismus zur Vorhersage der Messergebnisse ausgewählt werden muss, kann also keine Realität beschreiben. Darin stimmt Zeh genau besehen ja sogar mit den Anhängern der Kopenhagener Deutung überein: Für diese beschreibt die Quantenphysik ja gerade keine Realität, sie ist vielmehr eine Theorie über unser Wissen, über unsere Information, die letztlich die Frage, „Wissen worüber?” oder „Information wovon?” nicht beantworten kann.
Der Dissens besteht darin, dass die Kopenhagener und ihre heutigen Anhänger der Meinung sind, dass eine realistische Theorie, die begrifflich konsistent und vollständig ist, auch nicht möglich ist. Zeh hält diese Aussage in ihrer absoluten Form seit Bohms Theorie für widerlegt. Dass sie trotzdem noch immer unter den Physikern weit verbreitet ist, liegt nach Zeh zum einen an der anhaltenden Autorität Bohrs, zum anderen daran, dass die meisten Alternativvorschläge zusätzliche Annahmen enthalten.
Dabei spielt aber auch eine Rolle, dass die pragmatischen Regeln
der Kopenhagener Deutung es erlauben, den darin postulierten begrifflichen Inkonsistenzen systematisch aus dem Wege zu gehen. Wenn der Verzicht auf Realität denn Wahnsinn ist, so erfordert er jedenfalls Methode – und diese ist lehrreich.
Für Zeh muss eine realistische Theorie also begrifflich konsistent und vollständig sein. Konsistenz der Begriffe heißt, dass die Theorie über nur einen logischen Formalismus verfügt, und dass die Auswahl des Formalismus zur Beschreibung der Dynamik eines Systems nicht von irgendeinem Kontext abhängt. Bezüglich der Forderung nach Vollständigkeit darf wohl angenommen werden, dass Zeh diesen Begriff ganz im Sinne von Einstein, Podolsky und Rosen verstanden haben möchte: Wenn es möglich ist, für ein System ein Messergebnis mit Sicherheit vorherzusagen ohne dieses zu stören, dann muss die Theorie eine Eigenschaft für das System enthalten, die dem Messergebnis entspricht.
Heuristische Fiktionen
Wie kommt man nun zu realistischen Theorieansätzen? In seinem kurzen Gang durch historische Beispiele realistischer Theoriebildung (kopernikanisches Weltbild, elektromagnetisches Feld, Lichtäther) zeigt Zeh die zentrale Bedeutung des „als ob” für die realistische Theoriebildung auf: Planetenbewegungen werden zunächst so beschrieben „als ob” sie um die Sonne kreisen, das Licht verhält sich „als ob” es in einem Äther schwingt und elektrische Probeladungen verhalten sich so, „als ob” überall ein elektromagnetisches Feld vorhanden ist (interessant ist in diesem Zusammenhang die Position Nancy Cartwrights zum “als-wenn-Operator). Planeten, die um die Sonne kreisen, Äther und Feld sind zunächst nichts anderes als eine „heuristische Fiktion” – im Sinne des Descarteschen Dämons könnten sie uns im Extremfall auch nur vorgetäuscht sein.
Entscheidend ist, dass eine solche „heuristische Fiktion” einer realen Welt mit allen Erfahrungen im Einklang steht und keine überflüssigen Elemente enthält, die nicht aus Konsistenzgründen erforderlich sind.
Wenn das der Fall ist, dann sind wir über kurz oder lang bereit, eine Theorie, die auf einer heuristischen Fiktion basiert, als realistisch zu akzeptieren.
Warum Realismus?
Das Konzept, Theorien als logisch konsistente und beobachterunabhängige Formalismen zu konstruieren, deren heuristische Fiktionen mit allen Erfahrungen im Einklang stehen, ist nach Zeh ein in der Physikgeschichte äußerst erfolgreiches Konzept. Insofern sind diejenigen, die für die Quantenwelt die Möglichkeit einer realistisch konzipierten Theorie ablehnen, auch in der argumentativen Bringschuld für diese Unmöglichkeit.
Deutlich wird hier aber auch, dass „Realität” für Zeh nichts anderes ist als ein Design-Konzept für Theorien. Realistische Theorien weisen für Zeh unübersehbare Design-Vorteile auf: Begriffliche (logische) Konsistenz und Beobachterunabhängigkeit. Diese schließen offenbar, das sei nur am Rande angemerkt, Vollständigkeit und Determiniertheit ein.
Die Frage, ob eine realistische Theorie im Sinne Zehs die Realität tatsächlich (idealisiert und approximativ) beschreibt, wie sie ist, bleibt dabei unbeantwortet, ja, muss unbeantwortet bleiben, da Zehs Konzept sich ja ausdrücklich auf das Prinzip der „heuristischen Fiktion” stützt. Konsistenz und Beobachterunabhängigkeit sind nur notwendige Bedingungen dafür, dass eine Theorie realistisch gemeint sein kann sie sind nicht hinreichend dafür, dass die Theorie wirklich realistisch gemeint ist oder dass sie eine approximative und idealisierte zutreffende Beschreibung der Welt ist.
Wie viel Gemeinsamkeiten hat Zehs Realitäts-Konstrukt noch mit unserem alltäglichen, außerwissenschaftlichen Begriff von Realität? Auf den ersten Blick nicht viel: Im Alltag halten wir für real, was wir anfassen können, was unseren Bemühungen spürbaren Widerstand entgegensetzt, was seinen Ort nicht plötzlich und ohne Grund wechselt, was nicht verschwindet, wenn wir nicht hinsehen. Wenn man genauer hinsieht, dann muss man aber zunächst beachten, dass Zeh nicht von der Realität von Objekten, sondern vom Realismus der Beschreibungen spricht. Und da passen Alltagsbegriff und wissenschaftlicher Begriff recht gut zusammen: Auch im Alltag halten wir eine Beschreibung für unrealistisch, wenn sie begrifflich nicht konsistent ist und wenn ihr Gehalt von der Beobachtersituation oder -perspektive abhängt. Ob die Beschreibung dann auch zutrifft, ob sie mit der Realität „übereinstimmt”, ist eine ganz andere Frage.
P.S.: Mein Dank gilt Kim Boström, der mich auf diesen Text aufmerksam gemacht hat und mich mit der Aussicht auf eine anregende Diskussion zum Schreiben dieses Artikels motiviert hat.
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