Der Physiker und Mathematiker David Deutsch hielt im vergangenen Oktober einen interessanten Vortrag* unter dem etwas irreführenden Titel “A new way to explain explanation” [Ein neuer Weg, Erklärung zu erklären] – irreführend deshalb, weil Deutsch hier eigentlich nicht erklärt, was eine Erklärung ist, sondern wie man eine gute wissenschaftlichte Erklärung von einer schlechten unterscheiden kann. So irreführend der Titel ist, so interessant ist der Vortrag, zu den ich hier ein paar Worte sagen will.
Ich möchte mit dem interessanten Haupt-Punkt in Deutsch’ Vortrag beginnen, der Frage, was eine gute Erklärung von einer schlechten unterscheidet. Danach folgen zwei kritische Anmerkungen zu Nebensächlichkeiten, die im Vortrag zwar zuerst auftauchen, die ich aber in meiner Besprechung wegen ihrer geringen Bedeutung erst am Schluss erwähnen will.
Eine gute Erklärung
Deutsch unterscheidet zwischen Erklärungen, die man leicht ändern oder anpassen kann, wenn ihnen Tatsachen und neue Erkenntnisse widersprechen, und Erklärungen, bei denen das nicht so einfach möglich ist. Gute Erklärungen sind solche, die man nicht einfach abändern kann, wenn es empirische Fakten gibt, die ihnen widersprechen.
Deutsch’ Beispiel: Die Jahreszeiten haben sich die alten Griechen durch einen Mythos erklärt, Wärme und Kälte wurde auf das Verhalten rachsüchtiger Bewohner der Götterwelt zurückgeführt. Hätten die Griechen davon erfahren, dass es auf der Südhalbkugel genau dann warm ist, wenn es bei uns kalt ist, wäre der Mythos nicht widerlegt gewesen, man hätte ihn nur leicht modifizieren müssen.
Bei der heutigen Erklärung der Jahreszeiten durch die Neigung der Erdachse ist eine Modifikation nicht so einfach möglich – entweder die Neigung erklärt die Jahreszeiten oder sie tut es nicht – so Deutsch.
Wissenschaftliche Erklärungen, die man durch leichte Änderungen und Erweiterungen leicht an neue Fakten anpassen kann, sind somit nach Deutsch keine guten Erklärungen. Damit ist Deutsch natürlich ganz in der Tradition von Karl Popper, der von wissenschaftlichen Theorien Falsifizierbarkeit verlangt. Deutsch entwickelt Poppers Gedanken weiter – eine Theorie soll nicht nur falsifizierbar in dem Sinne sein, dass sie überprüfbare Vorhersagen macht, sie soll auch, wenn die Vorhersagen nicht genau eintreffen, wirklich als widerlegt gelten und nicht nur zu einfachen Anpassungen durch Abänderungen und Erweiterungen der Theorie führen.
Die Frage ist, warum Wissenschaftler nach so starken Theorien suchen sollten, deren Widerlegungen ja dann immer große Revolutionen im Denken auslösen müssen, weil nach völlig neuen Erklärungen für alle Fakten – sowohl die lange bekannten als auch die neu gefundenen – gesucht werden muss (Deutsch vereinigt an dieser Stelle sozusagen Poppers Falsifikationismus mit Kuhns revolutionärer Theoriendynamik). Wäre nicht ein evolutionäres Modell, bei denen Theorien Stück für Stück erweitert, angepasst, abgewandelt werden, effektiver?
Die Antwort ist vielleicht, dass solche starken, schwer zu variierenden Theorien eine größere Erklärungskraft haben als weiche, anpassbare, umformbare Theorien. Wenn man bei neuen Fakten einfach die Theorien in bisschen hier und da modifiziert und abwandelt, dann wird das Vertrauen, dass die Theorie überhaupt irgendwas erklärt, bald in den Keller gehen.
Wozu überhaupt Erklärungen?
Was eigentlich Erklärungen sind und wozu sie letztlich gebraucht werden, diese Fragen beantwortet Deutsch in seinem Vortrag (der dazu auch einfach zu kurz ist) nicht. Nicht ganz überzeugend ist seine Behauptung, dass die Menschen eben schon immer Erklärungen gesucht hätten – die alten Griechen eben im Mythos. Hier projiziert Deutsch unser heutiges und hiesiges Umgehen mit der Welt auf längst vergangene Zeiten. Dass der griechische Mythos eine Erklärung, eine Art vorwissenschaftliche Theorie überhaupt sein sollte, ist eigentlich nicht anzunehmen – die Griechen brauchten für das Entstehen der Jahreszeiten ja auch keine Theorie, sie nahmen sie hin, sie beobachteten sie und erzählten davon in Mythen.
Erklärungen braucht man erst, wenn man aktiv eingreifen, verändern oder beherrschen will – bis dahin reichen ja Beschreibungen der Welt, wie sie ist. Erst mit der technologischen Entwicklung begann der Wunsch nach Erklärungen zu einer wirklichen Kraft zu werden, und er erscheint uns heute, da wir sowohl für die Entwicklung von neuem Gerät als auch für die Lösung der Probleme, die wir uns mit dem alten Gerät geschaffen haben, ganz selbstverständlich.
Die Rolle der Praxis
Die Abwesenheit des praktischen Arbeitens, des Experimentierens und Eingreifens, die Deutsch auch von Popper übernommen hat, ist der zweite kleine Kritikpunkt, den ich nicht verschweigen kann. Für Deutsch ist – wie für Popper, das Experiment nur die Überprüfung der Theorie. Dass das Experimentieren, die wiederholte Produktion von experimentellen Befunden, deren Stabilität und Variabilität im Experimentalsystem erst die Basis für Hypothesenbildung und damit für Theorien-Konstruktion schafft, hat schon Popper zu ignorieren versucht. Dass damit der wissenschaftliche Prozess höchstens halb verstanden werden kann, wurde spätestens in den 1980ern gezeigt.
Vielleicht liegt aber gerade in der angemessenen Berücksichtigung der Bedeutung des Experimentalprozesses der entscheidende Punkt für die Zurückweisung der weichen Theorien, die auch Deutsch am Herzen liegt. Weiche Theorien lassen sich zwar an jeden experimentellen Befund anpassen, sie sagen aber irgendwann gar keine neuen Fakten, die durch experimentelle Variation produziert werden können, mehr voraus. Variabilität muss eine Eigenschaft des Experimentalsystems sein, Theorien hingegen sollten stark und stabil sein – das wäre die Arbeitshypothese.
* Ich danke Prof. H.D. Zeh für den Hinweis auf den Vortrag.
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